Das Leben ist für Tatort-Darstellerin Mona Petri ein wunderbares Geheimnis, das sie auch dank ihrer Arbeit im Pflegeheim lieben gelernt hat. Sowohl Pflege als auch Schauspiel bedeuten Umgang mit dem ungeschminkten Leben. Dabei schweigt die Schauspielerin nicht über die Zustände in den Heimen.
Mona Petri, Sie sind eine viel beschäftigte und inzwischen bekannte Schauspielerin. Zugleich arbeiten Sie als Altenpflegerin. Was treibt Sie an, so viel zu machen?
Einerseits etwas ganz Banales: Ich lebe seit vier Jahren in Zürich faktisch allein mit meiner 12-jährigen Tochter, und in unseren Berufen – der Vater ist ebenfalls Schauspieler – ist es mit dem Geldverdienen keine so offensichtliche Sache.
Altenpflege wird aber doch eher schlecht bezahlt…
Wenn ich diese Arbeit wegen des Geldes machen würde, wäre ich schlecht beraten, weil sie mit einem Stundenlohn von 25 Franken für Schweizer Verhältnisse wirklich schlecht bezahlt wird. Nein, diese Arbeit ist beten.
Beten?
Ja, beten mit Händen und Herzen, mit Worten, mit meiner ganzen Energie. Ich empfinde die Arbeit im Pflegeheim als eine ganz tolle Demutsübung.
Wie meinen Sie das?
Schlussendlich ist die Arbeit im Altenpflegeheim ähnlich wie das Schauspielen, weil ich ganz und gar mit dem umgehen darf, so wie das Leben ungeschminkt ist. Wenn ich auf der Bühne oder vor der Kamera eine Rolle spiele, geht es nicht darum, ob die Figur intelligent ist oder nicht, einfühlsam oder egoistisch, sondern als Schauspielerin muss ich mich in die Figur einfühlen können. Ich muss die Rolle nicht verändern, den Charakter der Figur nicht verbessern, sondern in sie hineinschlüpfen. Das finde ich einen guten Weg, um Dinge zu verstehen. Obwohl das Pflegeheim als Grossversammlung dementer Menschen ein Auslaufmodell sein sollte und kein schöner Ort ist, ist es trotzdem etwas Wunderbares, Zeit an einem Ort zu verbringen, an dem alles, was sonst an neoliberalem Blödsinn von Effizienz und Maximierungsschwachsinn durch unsere Köpfe geistert, keinen Boden hat. Im Pflegeheim geht es zwangsläufig um andere Werte.
Um welche Werte geht es denn?
Wenn ich im Heim bin, möchte ich den Menschen durch das, was ich tue, Erleichterung verschaffen. Ich möchte ihnen das Leben etwas angenehmer machen durch die Art, wie ich sie wasche oder eincreme oder ein gutes Gespräch führe. Das dient dem Leben. Das ist etwas anderes als etwas verbessern zu wollen, wobei ich natürlich immer und überall für eine bessere Welt bin. Aber der Weg dorthin geht über das Feiern, Bejahen und Pflegen des Richtigen, nicht über das Schimpfen aufs Schlechte.
Und wie merken Sie, was das Richtige ist?
Die Begegnung mit den Biografien der alten Leute, die ich lieben und ernst nehmen kann, egal wie es um sie bestellt ist, ist etwas Existenzielles. Und weil ich so vielen unterschiedlichen Menschen, die wirklich am Ende ihres Lebens stehen, begegnen darf, sehe ich auch die Spuren dieser Leben in allen ihren Facetten, die Verbitterung, die Heiterkeit, der Humor, die Verwirrung, die Streitigkeiten. All das gibt es, und all das macht ein Leben aus und hat Platz. Es ist nicht Aufgabe einer Pflegenden, die Biografien quasi moralisch zu beurteilen, sondern einfach da zu sein und mitzuhelfen, das Leben voll und echt zu machen, auch im Sterben und Tod. So ist diese Arbeit eine Verneigung vor dem Leben.
Sie kritisieren, dass alles, was ein Heim zu einem Ort für Menschen macht, wegmaximiert wurde. Können Sie das näher erläutern?
Das Beispiel des Heims, in dem ich arbeite, ist exemplarisch für viele: All diese Heime sind nun auch Unternehmen geworden, die wie fast alle Betriebe heutzutage von Managern geführt werden. Sie sollen schwarze Zahlen schreiben und Gewinn machen. Irrsinn ist das, wenn man bedenkt, dass Heime wie früher die Klöster dazu gedacht sind, Menschen zu pflegen. Hier sorgen Menschen für Menschen, damit es ihnen besser geht. Dazu sind diese Heime da und Schluss. Mit Effizienz-Massstäben und Zeitvorgaben fürs Haare-Kämmen und Fingernägel-Schneiden lässt sich schlicht nicht messen, was an Zuwendung nötig ist. Solche Massstäbe gefährden von Grund auf eine mitfühlende Haltung, die für eine gute Pflege entscheidend ist.
Ist der Pflegeberuf Opfer des raffgierigen Zeitgeistes geworden?
Ich halte es für eine höchst problematische Zeitgeisterscheinung, dass die Menschen heute nicht mehr in der Lage sind, die Basispflege von fieberkranken Angehörigen zu erledigen, gleichzeitig aber die kompliziertesten Aktionen auf dem Computer beherrschen. Die Empathiefähigkeit, die den Menschen zu einem schönen Tier macht, sein Vermögen, solidarisch zu sein, hat sich verschoben hin zu einem kalten Denken in vorgegebenen funktionalistisch-technisierten Schablonen. In der Fähigkeit zur Empathie, in unserem Talent, in unserem Strahlen liegt aber, so meine ich, der Sinn und unser Glück. Deshalb versuche ich den Leuten auch immer wieder ans Herz zu legen, dass es keine Bürde ist, Alte und Kranke zu pflegen, sondern ganz einfach. Wir werden grau und schmallippig, wenn wir als Stärkere nicht erleben dürfen, Schwache zu schützen.
In Ihren Rollen spielt das Thema Tod eine wichtige Rolle, zum Beispiel im Film «Hello Goodbye» oder in der bewegenden Szene, in der Iris von Roten den Strick präpariert, mit dem sie sich erhängt. Im Altenheim begegnet Ihnen der Tod ebenfalls. Wie gehen Sie mit dem Thema um?
Im Pflegeheim ist der Tod meistens ein willkommener, freundlicher, ein höflicher Gast, der nicht ungelegen und ungeliebt kommt. Das Sterben einer Frau im Heim war ein starkes Erlebnis. Ich sass noch eine Weile am Bett dieser Frau. In der Morgendämmerung wusch ich sie zusammen mit der Kollegin. Mit diesem Todeserlebnis in den Knochen war ich um sieben Uhr in der Früh unterwegs nach Hause und schaute unvermittelt in eine Baumkrone. Plötzlich wusste ich ganz klar, dass ich zu den grünen Blättern im Baum gehöre – jeder kennt diese glasklaren Gefühle, die einem intuitiv zeigen, wie es ist und wo man hingehört. Ein solches Blatt wächst und fällt ab, wenn der Wind kommt. Es kann nichts passieren, wenn ich mich mit dem Blatt verbinde, oder wie ein Christ sagen würde, mich als Teil der Schöpfung verstehe.
Was ist das Leben für Sie?
Für mich ist das Leben ein Geheimnis. Wer es durch matte Formeln durch die Hintertür trotzdem rational erklären will, begibt sich auf dünnes Eis. Das Geheimnis des Lebens lässt sich letztlich nicht lüften. Es bleibt ein Geheimnis, und deswegen will ich am Schluss des Lebens nicht so tun, als könnte ich über das Lebensende aufgrund eines vermeintlichen Wissens über das Leben selbst entscheiden. Das sage ich jetzt, ohne dass ich diese chronischen Schmerzen habe, die die Leute plagen, sie verzweifeln lassen und in schwarze Depressionen stürzen. Ich weiss auch um diese Seite und kann bei allem Respekt nur sagen, dass ich im Grunde nichts weiss.
«Ich denke, Kunst ist auch eine Form des Betens.»
Der Tod hat für Sie keine religiöse Dimension – oder doch?
Religion steht dafür, dass es Dinge gibt, von denen man weiss, sie sind, von denen man aber nicht weiss, wie sie sind. So weiss ich, es gibt den Tod, aber ich werde nie etwas darüber wissen, wie er wirklich ist.
Intuitiv, so scheint mir, wissen Sie viel über das Sterben aufgrund Ihrer Erfahrung, Ihres Erlebens des Sterben von alten Menschen.
Ja, natürlich. Das Schöne daran finde ich, dass ich nun gar nicht mehr wissen will, was hinter dem Geheimnis Leben steckt. Ich finde es in Ordnung, dass es so ist, wie ich es nicht weiss. Ich habe gelernt, dieses Geheimnis zu lieben. Ich kann mir vorstellen, dass Leute dieses Geheimnis Gott nennen.
Eine andere wichtige existenzielle Erfahrung war für Sie die Geburt Ihrer Tochter. Wie haben Sie die erlebt?
Bei der Geburt meiner Tochter habe ich gespürt, dass es einen Zusammenhang, eine Verbindung von Leben und Tod gibt. Dieser Weg ist von aussen vorgezeichnet, vorgegeben. Für die gebärende Frau gibt es jenseits von Gut und Böse nur diesen einen Weg quer durch diese kleine Hölle der Schmerzen hindurch in Richtung Leben, auf dem das Kind, das neue Leben zur Welt kommt. Da gibt es keine Abzweigung, keine Umgehungsstrasse, kein menschliches Wollen, das eine Alternative zu diesem einen Geburtstunnel ins Leben wäre. Als Gebärende ist man Teil dieser puren Energie. Es bleibt ihr nichts anderes übrig als die Hingabe an das Leben und damit die Unterwerfung unter einen starken, grossen fremden Willen. Ich bin mir nicht sicher, ob es am Ende eine so grosse Rolle spielt, ob ich das Urkraft, Geheimnis oder Gott nenne.
Könnte man sagen, dass Sie durch die Begegnung mit dem Leben und dem Sterben zur Tiefe des Lebens gefunden haben?
Ich passe immer gut zu glaubenden Menschen. Die sagen mir immer: «Ich kenne keinen gläubigeren Menschen als dich, Mona, auch wenn du sagst, du bist es nicht.» Es scheint da eine Doppelspurigkeit in mir angelegt zu sein. In der grossen Kunst, in der Poesie, der Musik wohnt Gott. Deswegen war er trotzdem nicht abwesend in meiner Kindheit, auch wenn meine Eltern sein Dasein stets negiert haben. Ich denke, Kunst ist auch eine Form des Betens. Wer künstlerisch arbeitet, ob als Musiker wie meine Eltern, als Schauspieler, Maler oder Schriftsteller, verbindet sich mit etwas Grösserem, egal wie man darüber denkt.
Sie haben einen «Gewissens-Bus» initiiert, der jeweils an ihren Spielorten aufgestellt wird. In diesem Bus können die Leute unplugged in die Kamera sagen, wie Sie über das Gewissen denken. Wie denken Sie über das Gewissen?
Das Gewissen, dieser innere Mitwisser, ist wahrscheinlich auch ein Gott und zugleich ein Doppelgänger von mir, der die Meinung gestaltet, ein innerer Dialogpartner. Dabei interessiert mich der Alltag des Gewissens, also wie das Gewissen wahrgenommen und gelebt wird, wesentlich mehr als das, was die Wissenschaft dazu sagt. Seit meiner Kindheit treibt mich diese Frage um: Das Gewissen – was ist denn das? Mich interessiert es brennend, von den Leuten zu hören, wie sie das Gewissen beschreiben: Wo und auf welche Art und Weise spüren sie das Gewissen? Wie das gute, wie das schlechte? Womit verbinden sie das Gewissen? Haben sie Vorbilder für ihr Gewissen? Hat das Gewissen etwas mit den Eltern zu tun? Mögen sie ihr Gewissen? Diesen Fragekatalog habe ich im Gewissens-Bus auf graue Kärtchen notiert mit der Bitte, zu versuchen, das Unsagbare zu formulieren. Ich glaube, es geht im Leben immer wieder darum, das Unsagbare zu sagen im Wissen, dass man den «Faust-aufs-Auge-Satz» nie finden wird, und trotzdem sind alle Bemühungen darum nicht vergeblich.
_
Das Gespräch mit Mona Petri ist ein Auszug aus dem Buch: «Wie hast du’s mit der Religion? Gespräche über Gott und die Welt» von Benno Bühlmann, Martina Läubli, Wolf Südbeck-Baur (Hrsg.). db-Verlag 2015. 206 Seiten, Fr. 32.80.