Das Münchensteiner Chemieunternehmen vanBaerle zieht weg und macht Platz frei für ein neues Wohnviertel. Mit dem Wegzug des Unternehmens ist auch die Zeit des Arbeiterquartiers Gstad abgelaufen.
Der Münchensteiner Ortsteil Gstad hat schon bessere Zeiten gesehen. Die 100-jährigen Arbeiterhäuser haben, so viel Verklärung sei gestattet, Patina angesetzt. Zwischen den Häusern tun sich Lücken auf, Abstellflächen, Parkierbrachen, die an ein kariesgeplagtes Gebiss denken lassen.
Doch nun soll alles anders werden. Kein neuer Anstrich, ein neues Wohnviertel könnte dort entstehen, wo die Gemeinde seit Jahrzehnten nicht mehr hingeblickt hat. Stets standen die Neubauviertel im Fokus der Münchensteiner Planer, das Gstad und der darüber liegende historische Dorfkern wurden dem schleichenden Zerfall überlassen.
Angekurbelt wird die Entwicklung vom Chemieunternehmen vanBaerle, das vergangene Woche seinen Wegzug angekündigt hat, das Land, immerhin rund 20’000 Quadratmeter, wurde einem Immobilienentwickler überschrieben. Mit dem Erlös will die Traditionsfirma die Fabrik andernorts neu aufbauen oder sich einmieten.
Dass am Standort und rundherum ein neues Geviert mit kleinem Zentrum entstehen soll, folgt einer historischen Logik. Bis vor Kurzem gehörten viele der Häuser vanBaerle, traditionell wurden dort die Arbeiter des Wasserglas-Produzenten untergebracht. Jetzt zieht die Firma um, also haben auch die Häuser ihre Schuldigkeit getan.
Das, unverblümt ausgedrückt, heruntergewirtschaftete Gstad sollte auch unabhängig vom Entscheid der vanBaerle in den nächsten Jahren aufgewertet werden. Das hat die Gemeinde im Rahmen ihres Entwicklungsplans «Münchenstein 2030» beschlossen. Wo die einzige Zentrumsfunktion derzeit von einer Glas-Sammelstelle ausgeübt wird, sollen Dutzende neuer Wohnungen gebaut werden; wo aus einem Coop ein Volg und dann ein tamilischer Familienladen wurde, neue Läden ihre Auslagen bestücken.
«Ich fühle mich vor den Kopf gestossen.»
SVP-Politiker und Anwohner Karl Müller
Für Karl Müller bedeutet das: goldene Zeiten. Müller gehört die Hälfte des Baugrunds in diesem Dorfteil, sagt er; ein grosser Teil nimmt sein Holzbau-Unternehmen in Anspruch, den Rest teilen sich Gemeinde und Kanton. Gleichwohl fühlt sich Müller, der für die SVP politisiert, «vor den Kopf gestossen».
Vom Umzug der vanBaerle und den Neubauplänen auf dem Areal wusste er nichts, auch die Gemeinde war nicht einbezogen. «Das muss man sich mal vorstellen», sagt Müller, «da wird der Bau eines neuen Quartiers verkündet und die Gemeinde weiss nichts davon.» Der erst 2013 abgeänderte neue Zonenplan ist bereits wieder überholt.
«In Münchenstein herrscht eine andere Planungskultur als in der Stadt», sagt Andreas Berger, bei der Gemeinde angestellter Raumplaner. Die unter Finanzknappheit leidende Gemeinde hätte sich das Land sowieso nicht kaufen können, also wurde sie auch nicht bei der Neuausrichtung der Nutzung einbezogen. Immerhin hat Münchenstein das letzte Wort, weil der neue Quartierplan durch die Gemeindeversammlung muss.
Mindestens 100 Wohnungen
Deshalb will Berger in den nächsten Wochen mit dem Arealentwickler Halter, der das Gross-Projekt im Auftrag des Zürcher Investors Rietpark Immobilien entwirft, zusammensitzen. Berger kann sich eine gemischte Nutzung vorstellen. Er rechnet, dass auf dem Gelände mindestens 100 Wohnungen Platz haben. Doch bis dahin wird viel Zeit verstreichen: Der Baubeginn ist nicht vor 2018 zu erwarten.
Schwierigkeiten könnte dabei die direkt angrenzende Bahnlinie bereiten, Chancen bietet das anschliessende Gewerbegebiet Walzwerk. Dort ist abseits des öffentlichen Interesses etwas entstanden, das auch der Stadt Basel gut anstehen würde: ein altes Industriegeviert, ausgehöhlt und mit neuem Zweck gefüllt. Gegen 100 kleine Handwerks- und Kunstbetriebe, Start-ups, ein bisschen Gastronomie und Nachtleben haben dort in friedlicher Koexistenz zusammengefunden.
Holzbauer Müller hofft, dass der Entscheid der vanBaerle ihm neue Möglichkeiten eröffnet. Müller will seinen Betrieb ebenfalls zügeln, auf seinem Gelände sollen 13 Eigentumswohnungen entstehen. Die Gemeinde teilte ihm mit, er solle sich einen Investor suchen. Ohne den lärmenden Fabrikbetrieb dürften seine Chancen dafür gestiegen sein.