Mutproben, Abenteuer, Liebesgefühle

Auf dem Schulweg lernen die Kinder fürs Leben. Eine Binsenwahrheit, die bei der Diskussion um die sogenannten Zwangsverschiebungen vergessen geht.

Ein Schulweg zum Träumen: Abfahrt zur Dorfschule im bündnerischen Avers (1942) (Bild: Keystone/Photopress-Archiv/Walter Studer)

Auf dem Schulweg lernen die Kinder fürs Leben. Eine Binsenwahrheit, die bei der Diskussion um die sogenannten Zwangsverschiebungen vergessen geht.

Marco Hüttenmoser, Erziehungswissenschafter und Gründer der Forschungsstelle «Kind und Umwelt» scheint recht zu haben, wenn er sagt: «Manchmal ist der Schulweg das Einzige, was Erwachsenen aus ihrer Schulzeit in Erinnerung geblieben ist.»

Als ich meine Kolleginnen und Kollegen per Mail nach ihren prägendsten Erlebnissen auf dem Schulweg fragte, dauerte es keine fünf ­Minuten, bis mir ein paar Antworten vorlagen. Hätte ich sie um die Hilfe bei einer komplizierten mathematischen Aufgabe gebeten, es wäre wohl bedeutend länger gegangen.

Grenzen und neue Horizonte

«Mein Schulweg führte durch ein gros­ses Maisfeld – der beste Ort für abenteuerliche Räuber- und Poli-Spiele. Der Bauer schätzte das nicht besonders», schrieb der eine. Ein anderer erzählt vom zugefrorenen Dorfbrunnen, von der Diskussion unter­einander, ob das Eis trägt oder nicht, und wer sich wohl traue, das zu testen. «Und zack, drin war ich im kalten Wasser. Ich musste nach Hause rennen, mich umziehen – kam dann zu spät zur Schule usw.» Eine Kollegin genoss jeden Meter ihres Schulwegs, wenn sie auf ihren Schwarm traf.

Abenteuer, Mutproben, erste Liebesgefühle prägten unsere Erinnerungen an den Schulweg. Aber auch Schreckensmomente, kleinere und grössere. Unvergesslich ist für gleich zwei Kolleginnen die Begegnung mit einem Exhibitionisten, der sich vor ihnen und ihren Freundinnen entblösst hatte. Wie sie daraufhin entsetzt und wahrscheinlich kreischend weggerannt sind. «Deswegen habe ich aber keinen Schaden davongetragen», fügt die eine hinzu.

Der Schriftsteller Heinrich Böll wird wohl ebenfalls an seine eigenen Erlebnisse gedacht haben, als er die Frage niederschrieb: «Vielleicht lernen wir nicht in der Schule, aber auf dem Schulweg fürs Leben?» Und Böll ist bei Weitem nicht der Einzige, der sich literarisch auf den Schulweg begab. Es gibt sogar ein Büchlein, eine Sammlung von Texten namhafter ­Autoren wie Kafka, Handke, Grass und vielen anderen über ihren Schulweg.

Es trägt den Titel «Auf Schulwegen durch Deutschland» und soll gemäss Herausgeber sowohl literarischer Reiseführer wie auch eine Lebensfibel sein. Denn, so heisst es im Buch­beschrieb, Schulwege führten «zu den mannigfaltigsten Herausforderungen, die nicht nur Grenzen aufzeigen, sondern auch neue Horizonte» eröffneten.

Etwas Verbotenes ausprobieren

Zu abgehoben, eine zu verklärte Sicht auf längst vergangene Zeiten? Das mag sein, was die Schilderungen der damaligen Schulwege betrifft, denn diese führten zu jener Zeit kaum über verkehrsreiche Strassen.

Manche Abenteuer, die sich früher noch ergaben, sind heute nicht mehr möglich. So ist das Maisfeld in Muttenz, in dem mein Kollege einst Räuber und Poli spielte, inzwischen durch Einfamilienhaus-Siedlungen zugebaut. Aber spannend ist ein Schulweg immer noch, immer noch gibt es wichtige und unwichtige Dinge zu bereden, bei denen kein Erwachsener zuhören sollte.

Manchmal müssen auch Hierarchien geklärt werden, vielleicht ist dafür sogar ein bisschen Kraft­einsatz nötig. Oder man will einmal etwas Verbotenes ausprobieren, gemeinsam, nicht allein. Und wo ginge das besser als auf dem Weg zur Schule, dann, wenn man weder unter Aufsicht der Lehrer noch der Eltern steht?

Doch Letztere haben immer mehr Mühe, ihren Nachwuchs von der Leine zu lassen. Am liebsten würden sie über jede Minute seines Seins und Tuns Bescheid wissen. Das Fröschli-Handy, das dank GPS immer den Standort der Kinder bekannt gibt, ist nicht zufällig ein Verkaufsschlager. Ebenso wenig wie die Briefe, die in schöner Regelmässigkeit von Schulleitungen und Gemeinden an die Eltern verschickt werden. In denen sie darauf aufmerksam gemacht werden, wie wichtig der Schulweg als Erlebniswelt für ihre Kinder sei und sie sollten sie doch bitte nicht mit dem Auto vor das Schulhaus fahren.

Im Elterntaxi zur Schule

Jedes fünfte Kind in Deutschland, das ergab eine Umfrage, kommt inzwischen per Elterntaxi zur Schule. In der Schweiz sind die Zahlen gemäss dem Verkehrsclub der Schweiz (VCS), der sich auf den Mobilitätsbericht des Bundesamts für Statistik stützt, ähnlich. Demzufolge werden insbeson­dere jüngere Kinder häufig von ihren Eltern zur Schule gefahren, die Sechs- bis Neunjährigen legen 23 Prozent ihrer täglichen Etappen als Mitfahrende im Auto zurück. Aber auch bei den 10- bis 14-Jährigen beträgt der Anteil immer noch 13 Prozent der Etappen.

Bleiben wir bei der Kategorie der älteren Kinder. Um sie und ihr Wohlbefinden dreht sich derzeit die Diskussion über eine der drei Bildungs­initiativen, über die das Baselbieter Stimmvolk am 25. November zu befinden hat, besonders. Gemäss Initiative geht es um deren «Zwangsverschiebungen» – und zwar in ein anderes Schulhaus als in das, das ihrem Wohnort am nächsten liegt.

Zwang und Empörung

Da ist die Rede von Kindern, die aus ihrem Umfeld herausgerissen würden, von Kindern, die zum Zmittag nicht mehr nach Hause können. In Zeitungsartikeln werden Schicksale von Sekschülern beschrieben, die statt in ihrem Wohnort Birsfelden nach Muttenz zur Schule müssen und deswegen einen «deprimierend» längeren Schulweg in Kauf nehmen müssen. In einem BaZ-Artikel mit dem ­Titel «Schülern droht erneut Zwangsverschiebung» konnte man die Geschichte von zwölf Kindern aus dem Schulkreis Schönenbuch/Allschwil lesen, die nach Binningen zwangsverschoben werden. «Die Eltern sind empört.» Das ist glaubhaft.

Viele Eltern sind empört, wenn ihr Kind – von oben verordnet – einen längeren Schulweg hat, es wird ja auch alles ein bisschen komplizierter. Mit früherem Aufstehen, eventuell auswärtigem Zmittag und anderem mehr. Aber, Hand aufs Herz: Ist es nicht so, dass nur noch wenige Mütter (und Väter) von Sekschülern mittags am Herd stehen? Ist es nicht so, dass viele Kinder, wenn sie in eine neue Schulstufe kommen, auch einen neuen Freundeskreis bilden? Und: Ist es nicht so, dass heranwachsende Kinder sich Schritt für Schritt von ihrem Elternhaus entfernen?

Es will auf keinen Fall zurück

Vielleicht sollte man den Pubertierenden – denn das sind sie, wenn sie in die Sek gehen – ein bisschen mehr Vertrauen schenken, dass sie etwas mit ihrem längeren Schulweg anzufangen wissen. In einem Elternforum hat jedenfalls eine Mutter, die die ­Initiative vorsorglich unterschrieben hat, von einer «lustigen Begebenheit» geschrieben: «Habe vor zwei Wochen mit einer in diesem Schuljahr betroffenen Mutter gesprochen. Diese haben auch alles Erdenkliche unternommen – erfolglos –, um ihr Kind nicht verschieben zu müssen. Der Clou: Dem zwangsverschobenen Kind gefällt es nun super gut und es möchte auf keinen Fall zurück.»

Es geht um drei Bildungsinitiativen
Der Kanton Baselland muss bekanntlich sparen, und die Regierung will das auch bei der Bildung tun. Dagegen hat sich Widerstand formiert. Mit insgesamt drei Volks­initiativen will das überpar­teiliche Komitee «Gute Schule Baselland» gegen den seiner Meinung nach geplanten Bildungsabbau kämpfen.
Die eine ist diejenige «gegen Zwangsverschiebungen», die sich gegen die vom Regierungsrat beschlossene «Optimierung» von Sekundarklassen richtet. Optimierung heisst: Es werden Klassen aufgefüllt und solche mit weniger Schülern aufgehoben.
Die zweite Initiative, jene «gegen überfüllte Klassenzimmer», will die ­maximale Klassengrösse bei 22 Schülern, der Gegenvorschlag der Regierung bei ­24 festschreiben.
Die dritte ­Initiative, «Betreuung der SchülerInnen optimieren», ­fordert die Senkung der Pflichtstunden für Klassen­lehrer, ­damit diese mehr Zeit für die Betreuung der Schüler haben.
FDP, SVP und GLP lehnen alle drei Initiativen ab, die Grünen und die EVP sagen Ja zu allen, die SP befürwortet zwei, diejenige gegen die Zwangsverschiebungen lehnt sie ab. Die CVP hat sich noch nicht entschieden.

Ist die Initiative gegen Zwangsverschiebungen von Schülern nötig oder kontraproduktiv?
In der Wochendebatte diskutieren die Baselbieter Landräte Jürg Wiedemann (Grüne) und Martin Rüegg (SP). Reden Sie mit und stimmen Sie ab

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.11.12

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