Neue Krebstherapie bringt Hoffnung – aber auch Missverständnisse

Neue Medikamente sollen die Krebstherapie revolutionieren. Hinter ihnen steckt jahrzehntelange Forschung und viel Geld. Die Präzisionsmedizin hat aber nur bei wenigen Krebsarten tatsächlich viel bewirkt.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Neue Medikamente sollen die Krebstherapie revolutionieren. Hinter ihnen steckt jahrzehntelange Forschung und viel Geld. Die Präzisionsmedizin hat aber nur bei wenigen Krebsarten tatsächlich viel bewirkt. Oft schiebt sie den unausweichlichen Tod nur um wenige Wochen oder Monate hinaus. Und das hat seinen Preis.

Jedes Jahr sterben in der Schweiz mehr als 16’000 Menschen an Krebs. Fast 40’000 Menschen erkranken im selben Zeitraum neu. Für diese Menschen und ihre Angehörigen weckt die personalisierte Medizin grosse Hoffnungen. Personalisierte Krebsbehandlung – das ist das Schlagwort, das die neuen Therapieformen überschreibt, die auf einer immer feineren Unterscheidung von Tumoren beruhen.

Inzwischen wird nicht mehr nur zwischen grossen Diagnosen wie Brust- oder Darmkrebs unterschieden. Man weiss, dass auch innerhalb einer Tumorart – wie beispielsweise Brustkrebs – die bösartigen Zellen auf unterschiedliche Weise entstehen können. Fest machen können Ärzte das an sogenannten Biomarkern, also Auffälligkeiten, die sich im Labor bestimmen lassen. Wissen sie, warum genau ein Tumor wächst oder expandiert, können sie ihn gezielter bekämpfen.

Stratifizieren nennen Mediziner es, wenn sich die Zuordnung der Patienten zu immer kleineren Untergruppen an den molekularen Eigenschaften des Tumors orientiert. Die darauf abgestimmte Behandlung nennen Ärzte zielgerichtete Medizin oder Präzisionsmedizin. Patienten kennen diesen Forschungsbereich meist als personalisierte oder individualisierte Krebsmedizin. Begriffe, die Hoffnung wecken.

Doch das Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung TA-SWISS sieht es derzeit als noch offen an, ob «die Vision einer umfassenden personalisierten Medizin je Realität wird». Denn bislang gibt es nur wenige echte Innovationen.

Neue Therapie greift erst bei wenigen Krebsarten

Astrid Ackermann* ist ein Beispiel, an dem sich die Chancen und Risiken der neuen Therapien aufzeigen lassen. Ackermann ist 47 Jahre alt, als der Arzt beim Ultraschall einen winzigen Knoten in ihrer Brust feststellt.

Die Gewebeprobe zeigt: Es ist Brustkrebs. Ackermann wird operiert und erhält eine Strahlenbehandlung. Die Mediziner untersuchen das entfernte Tumorgewebe und stellen fest: Die Tumorzellen weisen eine Besonderheit auf, der Tumor ist hormonsensitiv, wird also durch Kontakt mit den körpereigenen Hormonen zum Wachstum angeregt. Dadurch ist Ackermann eine Kandidatin für eine personalisierte Therapie, die die Wirkung der Hormone ausschalten kann.

Der behandelnde Arzt verschreibt ihr das Medikament Tamoxifen. Dieses soll – für fünf Jahre eingenommen – die Wahrscheinlichkeit senken, dass der Krebs zurückkehrt. Etwa drei Vierteln der Brustkrebspatientinnen kann diese Therapie helfen, da ihre Tumorzellen sogenannte Östrogenrezeptoren tragen. Diese Bindungsstellen ragen wie Antennen aus der Zelle. Docken weibliche Geschlechtshormone daran an, aktiviert das Wachstum der Krebszelle. Tamoxifen, ein sogenanntes Antihormon, verhindert das fatale Andocken der Hormone. 

Astrid Ackermann hatte Glück, ihr Tumor war klein und wurde vollständig entfernt. Sie hat eine gute Prognose, auch aufgrund der personalisierten Therapie mit dem Medikament Tamoxifen, das sie mittlerweile seit einigen Monaten nimmt. Viele andere Krebspatienten stecken mittendrin in der Suche nach der rettenden Therapie. 

Hat der Krebs gestreut, gibt es keine Heilung

Bei jeder vierten Patientin finden sich im Gewebetest dagegen Hinweise auf eine aggressivere Form von Brustkrebs: Ihre Tumorzellen tragen eine grosse Anzahl von Her-2-Rezeptoren. Auch diese leiten Wachstumssignale ins Zellinnere. Ein anderes zielgerichtetes Medikament, Herceptin, unterbindet das. Sind bei Her-2-Patientinnen Metastasen aufgetreten, gibt es inzwischen zusätzliche Medikamente. 

Grundsätzlich gibt es zwei Situationen, die man bei der Therapie unterscheiden muss: Patienten wie Astrid Ackermann mit kleinem Tumor, bei denen sich noch keine Metastasen gebildet haben, haben nach einer Operation – meist kombiniert mit Bestrahlung und in manchen Fällen auch mit Chemotherapie – sehr gute Aussichten. Die anschliessende Einnahme weiterer personalisierter Medikamente erhöht die Chance, dass der Krebs nicht mehr zurückkehrt.

Anders ist es bei einer Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium. Haben sich bereits Metastasen gebildet, sorgen personalisierte Medikamente – ebenso wie Chemo- oder Strahlentherapie dafür, dass der Krebs zurückgedrängt wird. Dadurch verlängert sich zwar die längere Überlebenszeit der Patienten, jedoch auch mit den neuen Arzneimitteln meist nur um wenige Monate. Heilen können sie jetzt nicht mehr.

Viele Patienten wissen nicht, dass die neuen Medikamente fortgeschrittenen Krebs im besten Fall eine Weile aufhalten.

Antihormone werden bereits seit gut 20 Jahren eingesetzt. Patientin Ackermann profitiert also von einer personalisierten Therapie der ersten Stunde. Doch fragt man sie, ob sie personalisiert behandelt wird, reagiert die Frau, die selbst Ärztin ist, mit Unverständnis: «Ärzte behandeln doch immer die Person, den individuellen Fall.» Damit spricht sie ein Problem an. 

Patienten verstünden unter personalisierter oder individualisierter Medizin häufig eine Medizin, die den Patienten mit all seinen Belangen berücksichtigt und genau für seinen Tumor hergestellt wird, sagt Bianca Senf, Leitende Psychoonkologin am Universitären Zentrum für Tumorerkrankungen in Frankfurt am Main. «Personalisierte Medizin hat aber nichts Persönliches. Vielmehr teilen Wissenschaftler Patienten anhand von Gewebemerkmalen in Gruppen ein.» 

Ein weiterer Trugschluss: Viele Patienten denken, diese hochmodernen, vielbeworbenen Mittel würden immer zur Heilung führen. Sie wissen oft nicht, dass die Medikamente fortgeschrittenen Krebs im besten Fall eine Weile aufhalten.

In den Statistiken werden die Heilungsaussichten oft schöner dargestellt, als sie es sind.

Hinzu kommt ein grundsätzliches Problem in der Patient-Arzt-Kommunikation: Patienten haben Angst und sie schöpfen selbst aus Ungesagtem Hoffnung. Senf erläutert: «Wenn Ärzte sagen: Mit dieser Behandlung können wir den Krebs zum Stillstand bringen, hören Patienten oft das grosse Versprechen der Heilung.» 

Kehre der Krebs dann zurück, fühlten sich die Patienten betrogen, seien wütend und verzweifelt, so Senf. Auch weil sie viele Nebenwirkungen ausgehalten hätten. In solchen Situationen griffen die Hilflosigkeit der Mediziner und die Todesangst der Patienten ineinander.

Patienten sollten jedoch genau wissen, was sie bei einer personalisierten Therapie zu erwarten haben, damit sie sich bewusst entscheiden können. «Auch Ärzte fahren besser mit einer offenen, aber sensiblen Aufklärung», ist sich die Psychoonkologin sicher.

Doch dazu muss man verstehen, wie die entsprechenden Statistiken zu lesen sind. Dort erscheinen die Heilungsaussichten oft besser, als sie es sind. Das musste auch die britische Ärztin Jane Keidan lernen. Sie hatte als Medizinerin in Grossbritannien eine Petition unterzeichnet, die die Kostenübernahme von Herceptin durch die Krankenkassen propagierte.

Keidan hatte von einer Senkung des Rückfallrisikos unter dem Medikament um 50 Prozent gelesen. Dann erkrankte sie jedoch selbst an Her-2-positivem Brustkrebs und beschäftigte sich genauer damit – und entschied sich gegen die Einnahme von Herceptin.

Schwierige Kommunikation

Der behandelnde Arzt hatte ihr erläutert, was sich hinter den 50 Prozent Rückfallsenkung verbirgt: Ohne das neue Medikament kam der Krebs bei 10 von 100 Frauen wieder, mit Herceptin erlitten nur 5 von 100 einen Rückfall. Als die Ärztin aber sah, dass ebenfalls 5 von 100 mit Herceptin behandelten Frauen schwere Herzschäden erlitten, war sie ernüchtert.

Was Patienten anhand des Beispiels lernen können: Man sollte immer nach absoluten Zahlen fragen, also bei wie vielen von hundert Patienten die Behandlung einen Vorteil brachte – und worin dieser besteht.

Astrid Ackermann gilt als geheilt, auch wenn sie Tamoxifen noch einige Jahre einnehmen muss. Doch nicht für alle Patienten ist die personalisierte Medizin schon so weit, dass sie Heilung bewirken kann. Hier ist es umso wichtiger, dass der Patient wirklich versteht, welche Chancen und Risiken er mit einer bestimmten Therapie eingeht. 

«Ich will in jedem Fall genau wissen, was auf mich zukommt und was ich von der Behandlung erwarten kann.»
Astrid Ackermann*, behandelte Patientin 

Ärzten und Patienten fällt es nach wie vor schwer, miteinander zu sprechen. Erhebungen zeigen, dass Patienten dem Arzt nicht alles berichten. Sei es aus Angst, die für sie hoffnungsvolle Therapie würde bei zu vielen Komplikationen abgebrochen. Oder weil sie glauben, der Arzt habe wenig Zeit, sodass sie sich im Gespräch mit ihm kurz fassen. Und manchmal verstehen Patienten schlichtweg nicht, was der Arzt ihnen sagt. 

Hermann Amstad, der Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in Basel, erinnert daran, dass solche Kommunikationsprobleme nicht neu seien – und nicht unbedingt den neuen Therapieformen anzulasten sind. «Früher hat man gesagt, die Therapie wirkt bei 20 Prozent – und die Leute haben immer gehofft, sie gehören zu jenen 20 Prozent», sagt er.

Obwohl Astrid Ackermann selbst Medizinerin ist, sagt sie rückblickend: «Ich habe meinen Arzt immer wieder das Gleiche gefragt. Ich wollte Sicherheit. Manches konnte ich einfach nur verstehen und wahrhaben, wenn es mir immer wieder wiederholt wurde.» 

Doch sollte Ackermann noch einmal in eine Situation kommen, in der sie sich für oder gegen ein Therapie entscheiden muss, weiss sie jetzt schon: «Ich will in jedem Fall genau wissen, was auf mich zukommt und was ich von der Behandlung erwarten kann.»

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* Name von der Redaktion geändert 

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