Seit über 20 Jahren arbeitet R.V.* bei Novartis. Die Schocknachricht ereilte ihn am Montagnachmittag: Robert Weltevreden, Chef der Verwaltungseinheit Business Services beim Pharmakonzern, erklärte im vollen Auditorium auf dem Novartis-Campus, dass 700 Stellen abgebaut werden müssten. Und das in einer Division mit rund 1800 Mitarbeitenden.
Die Mitarbeitenden seien nach dieser Information «zermürbt», sagt R.V. der TagesWoche. Sie würden nicht verstehen, warum Novartis bei einem Reingewinn in Milliardenhöhe Stellen abbauen müsse. «Wenn es dem Konzern schlecht ginge, würde es jeder Mitarbeiter verstehen. Aber so…»
Bis Weihnachten ist klar, wen es trifft
Am Dienstag gab Novartis den Kahlschlag öffentlich bekannt: In den nächsten vier Jahren sollen insgesamt 2150 Stellen in der Schweiz abgebaut werden. Das ist fast jede sechste Novartis-Stelle in diesem Land.
In Basel werden rund 1000 Stellen wegfallen, 700 bei den Business Services. Zu dieser Einheit gehören unter anderem die Bereiche Personal, Finanzen, Immobilien und IT. Die abgebauten Stellen werden an anderen Standorten wie Irland, Indien oder Tschechien wieder aufgebaut, schrieb Novartis in ihrer Medienmitteilung vom Dienstag.
Wer konkret gehen muss, wissen die Mitarbeitenden noch nicht. Novartis will sich auf Anfrage nicht äussern. Bereits seit Frühling sei klar, dass 80 Angestellte bei der IT ihre Stelle verlieren würden, sagt R.V. «Nun fragt sich jeder: Wen triffts? Das grosse Warten geht los.» Kurz vor Weihnachten würde die Liste der Betroffenen intern aufgelegt. Das habe Einheits-Chef Weltevreden bei der Mitarbeiterinfo im Auditorium gesagt, so R.V.
«Für meine Stelle zahlt Novartis in der Schweiz rund 10’000 Franken pro Monat, in Indien nur noch 1500.»
Mit dem Abbau hätten viele gerechnet, sagt ein anderer Mitarbeiter aus dem mittleren Kader, der bis vor Kurzem bei Novartis arbeitete. «Und jeder weiss: Das war erst der Anfang», so der ehemalige Mitarbeiter. Es sei klar, dass der Konzern alles auslagern würde, was möglich sei. Warum solle Novartis denn die teuren Stellen in der Schweiz behalten? «Für meine Stelle zahlt Novartis in der Schweiz rund 10’000 Franken pro Monat, in Spanien sind es etwa 3000 Franken und in Indien nur noch 1500.»
Wie der Konzern mit dem Stellenabbau umgeht, findet der Ex-Mitarbeiter aber fair. Die Betroffenen sollen von einem internen Jobcenter weiter vermittelt werden. Einige werden für sechs Monate freigestellt und erhalten danach eine Abfindung – rund einen Monatslohn für jedes Jahr, das man beim Konzern absolviert hat. Den über 58-Jährigen bietet Novartis ausserdem eine Frühpensionierung an. Der Konzern schreibt, den vom Abbau betroffenen Angestellten würde man die «volle Unterstützung zukommen lassen».
Effizienz dank Auslagerung
Der Ökonom George Sheldon von der Universität Basel findet es ebenfalls vorbildlich, wie Novartis mit dem Abbau umgehe: «Der Stellenabbau ist für jeden einzelnen Mitarbeiter schlimm. Aber Novartis tut verhältnismässig viel, um den Abbau für die Mitarbeitenden sozialverträglich zu gestalten.»
Für ihn ist klar, dass solche Entscheidungen zwar wehtun, aber wirtschaftlich notwendig sein können. «Der Konzern bewegt sich in einem starken Konkurrenzumfeld. Es gilt deshalb, vorausschauend zu entscheiden und zum Beispiel die eher restriktive Politik der USA bei den Medikamentenpreisen in der Planung zu berücksichtigen.» Er bewertet den Abbau deshalb als «zukunftsorientiert».
Heftige Umbrüche seien in der Pharmabranche wie auch in anderen Branchen nicht unüblich – gehe es doch häufig darum, «einen Teil vom Backoffice auszulagern, was aus Effizienzgründen natürlich Sinn machen kann».
Spezialisiert, über 45, schwer vermittelbar
Astrid Beigel von der Gewerkschaft Syna macht sich indes Sorgen um die Mitarbeitenden. Vor allem für die 45- bis 55-Jährigen, die in der Produktion gearbeitet haben, wird es aus ihrer Sicht schwierig. «Hier fordern wir einen grossen Fokus auf Aus- und Weiterbildung. Die Personen, die teilweise sehr spezialisiert arbeiten, sollen ohne Unterbruch und Einbussen Anschlusslösungen finden können.»
R.V. teilt die Sorge der Gewerkschafterin. Mit seinen 54 Jahren fällt er genau in die Kategorie derjenigen, die nach einer Entlassung potenziell schwer vermittelbar sind. «Ich weiss schon jetzt, dass ich mit meinem Berufsprofil keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hätte. Ich bräuchte mich gar nicht zu bewerben. Mir bleibt nur die Selbstständigkeit.»
Bereits macht unter den Mitarbeitenden das Gerücht die Runde, dass genau die Gruppe der über 50-Jährigen am meisten vom Abbau betroffen sein werden. «Die kosten am meisten Geld, dort kann man am meisten sparen», so R.V. Ob diese Sorge den Tatsachen entspricht oder doch nur den Ängsten der Mitarbeitenden, lässt sich noch nicht sagen.
Erneuerte Betriebskultur – eine Farce?
Der Ex-Mitarbeiter sagt, der neue CEO Vas Narasimhan sei im persönlichen Kontakt ein umgänglicher Typ. «Man hat den Eindruck, er stellt den Menschen in den Mittelpunkt.» Die Betriebskultur sei jedoch immer noch sehr stark von der Konkurrenz getrieben: «Es gibt eine Ellbogenmentalität, die im Eigentlichen auch der Produktivität schadet.»
Daran habe auch das interne Programm «Blue Culture» wenig geändert, das Anfang Jahr zur Verbesserung der Betriebskultur eingeführt wurde. Alle Mitarbeitenden sollten sich von einem Tag auf den anderen duzen, die Hierarchien flacher werden. «Schöne Worte, in der Praxis aber untauglich», meint R.V. dazu.
Auch die mit der «Blue Culture» eingeführten «Speak-up-Events» hätten nichts gebracht. Diese Anlässe sollten dazu genutzt werden, auf die Sorgen der Mitarbeitenden eingehen zu können. Diese hätten sich aber nicht getraut, echte Kritikpunkte anzusprechen. Auch deshalb, weil sie Angst davor gehabt hätten, sie würden damit den eigenen Bonus aufs Spiel setzen.
Nachträglich wirkt der Effort für eine bessere Betriebskultur auf R.V. wie ein Witz. Ein schlechter zumal, angesichts der angekündigten Entlassungen, die nun alles überschatten.
* Name der Redaktion bekannt.