Die Weltwirtschaft ist übersättigt und krank. Es braucht eine Rückbesinnung auf die Grundlagen – eine ökonomische Diät.
Die Parallelen sind frappierend: Die Lebenserwartung nimmt zwar immer noch zu, doch die Lebensqualität nimmt ab, Übergewicht, Diabetes, Depressionen und Krebs plagen uns immer mehr. Dasselbe in der Ökonomie: Noch nimmt das Bruttoinlandsprodukt zu, wir haben deutlich mehr Güter und Dienstleistungen als noch vor 20 Jahren – doch wir erkaufen uns dieses Mehr mit Stress, Arbeitslosigkeit und einer zunehmend ungleichen Verteilung.
In der medizinischen Abteilung sind inzwischen Fortschritte zu vermelden. Einige Ärzte haben sich auf die Grundlagen zurückbesonnen. Statt bloss die Wirkung einzelner Medikamente zu beobachten, will man wissen, wie der Körper insgesamt funktioniert. Wie hat sich unser Stoffwechselsystem im Verlaufe der Evolution entwickelt? Für welche Art von Leben und von Nahrungsmitteln sind wir gemacht? Wie weicht die aktuelle Lebensweise von diesen biologischen Vorgaben ab? Welche dieser Abweichungen könnten für welche Krankheiten ursächlich sein? Lassen sich daraus Therapien ableiten?
Chronisch entzündet
Wer jahrzehntelang die ökonomische Forschung verfolgt hat, muss begeistert sein, mit welcher Frische und Breite in der medizinischen Abteilung der Humanwissenschaften geforscht wird. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Zwar ist im Detail noch einiges umstritten. Wird etwa der Fettstoffwechsel über den Blutzucker und die Insulinreaktion gesteuert, oder liegt der Schlüssel zur Fettleibigkeit eher im Zusammenspiel von Fruktose in der Nahrung und Harnsäure im Zellkern?
Dennoch gibt es schon Erkenntnisse, die sich praktisch umsetzen lassen: Entgegen unserer genetischen Ausstattung konsumieren wir zu viele Zucker und «schnelle» Kohlenhydrate, und bei den Fettsäuren stimmt das Verhältnis von Omega 3 zu Omega 6 nicht mehr, was zu chronischen Entzündungen führt. Auch die entscheidende Rolle der Darmflora ist neu entdeckt worden.
Viele Diskussionen unter Medizinern und Ernährungswissenschaftern erinnern an die Grabenkämpfe bei den Ökonomen. Einige Ärzte glauben noch heute, dass Fettleibigkeit von Nahrungsfetten kommt. Zumindest die Regierungsökonomen sind noch immer überzeugt, dass Ungleichgewichte mit Sparen bekämpft werden müssen und dass staatliche Ausgaben das Wachstum bremsen. Doch anders als die Medizin ist die Ökonomie von einem Paradigmenwechsel noch weit entfernt.
Die Mainstream-Ökonomie versteht sich noch immer als Betriebswirtschaftslehre für Länder. Wie steigern wir den Output? Wie steigern wir die Konkurrenzfähigkeit und die Beschäftigung? Lauter Fragen von Betriebswirten. Humanwissenschafter würden fragen: Wozu? Soziologen würden fragen: Für wen? Zusammen würden sie entdecken, dass die Wirtschaft das Glück nicht durch die Menge und Qualität der Güter beeinflusst, sondern in erster Linie durch die Art und Weise, wie die Produktion unsere Gesellschaft organisiert und desorganisiert.
Was wirklich glücklich macht
Das ist zumindest der vorläufige Schluss, den uns die Forschung nahelegt. Am Institut für empirische Wirtschaftsforderung (IEW) in Zürich etwa wird erforscht, unter welchen Bedingungen und Spielregeln sich die Menschen egoistisch oder kooperativ verhalten. Sie haben auch Techniken entwickelt, um herauszufinden, unter welchen Umständen sich die Menschen glücklich oder unglücklich fühlen. Von Wirtschaftshistorikern kommen sehr interessante Erkenntnisse zur Frage, welche vertrauensbildenden Institutionen die Menschen im Verlaufe der Jahrtausende entwickelt haben, um zum Beispiel den evolutionären Sprung von der Sippe zum Staat zu schaffen.
Der soziale Kitt bröckelt
Analog zur Ernährungswissenschaft kann man sich nun die Frage stellen, wo wir vom evolutionären Pfad abgewichen sind und inwiefern unsere aktuellen Lebensumstände von denen abweichen, die unsere soziale DNA geprägt haben.
Vor allem zwei Unterschiede sind wesentlich. Der erste betrifft die mangelnde Nähe. Es gibt wenig von Angesicht zu Angesicht und viel anonyme Hierarchie. Experimente zeigen, dass die Möglichkeit, unfaires Verhalten zu bestrafen, ein wichtiger sozialer Kitt ist. Heute fehlt dieser weitgehend. «Heimat ist überhaupt nicht etwas, was man einfach hat, Heimat muss man machen», sagte alt Bundesrat Willy Ritschard. Doch das setzt ein Minimum an Nähe und Sesshaftigkeit voraus. Müssen wir dieses Minimum wirklich gegen mehr Effizienz tauschen?
Ein anderer wichtiger Unterschied betrifft das Verhältnis von Arbeit und Bedürfnissen. Tausende Generationen lang arbeiteten die Menschen, um ihre Bedürfnisse zu decken. Seit wenigen Jahrzehnten ist die Arbeit selbst zum wichtigsten Bedürfnis geworden. Schwache Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts alarmieren uns nicht deshalb, weil der materielle Wohlstand nicht mehr schnell genug steigt – wozu auch –, sondern weil wir Arbeitslosigkeit befürchten. Das ist deswegen so, weil das soziale Leben schon immer rund um die Arbeit herum organisiert war. Früheren Generationen ist es gelungen, Arbeit und Konsum aufeinander abzustimmen.
In der Steinzeit war sie zugleich Produktions- als auch Konsumeinheit. Der Arbeitseinsatz wurde durch das Hungergefühl und durch den Blick in die Vorratskammern geregelt, die Verteilung der Arbeit durch Tradition und körperliche Merkmale. Später waren Zünfte, Kasten, Klöster und Armeen zuständig für die Verteilung der Arbeit. In der Nachkriegszeit bis in die Siebzigerjahre hinein haben dann Verkürzungen der offiziellen Arbeitszeit dafür gesorgt, dass Produktion und Konsum einigermassen im Gleichgewicht waren. Arbeitslosigkeit war damals in Europa praktisch unbekannt, sie galt als die «amerikanische Krankheit».
Länder wie Unternehmen
Heute funktioniert diese Abstimmung offenbar nicht mehr. Der Hauptgrund dafür sind die Spielregeln der Globalisierung, in der Länder wie Unternehmen geführt werden. Export ist der Hauptzweck, Wettbewerbsfähigkeit die Richtschnur.
Jedes Land kann die faktisch unbegrenzte Nachfrage der ganzen Welt bedienen. Und das wiederum geht am besten, wenn man «billig» ist, also möglichst viel und effizient arbeitet und wenig selbst konsumiert.
Dabei klaffen global gesehen Produktion und Konsum immer weiter auseinander. Es kommt zu Stressreaktionen vergleichbar mit dem «metabolischen Syndrom» – Bluthochdruck, Übergewicht, hohe Blutfettwerte – in der Medizin. Die Kennzeichen des «globalistischen Syndroms» sind etwa Arbeitslosenquoten, chronische Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite sowie steigende Ungleichheit.
Viel zu wenig beachtet wird hingegen ein ursächliches Symptom – die zunehmende Abweichung der Normarbeitszeit von der tatsächlich geleisteten durchschnittlichen Arbeitszeit.
Überholtes Modell
Diese Kennzahl wirft gleichsam einen Blick in die Kernzelle. Wenn die Normarbeitszeit 40 Wochenstunden beträgt, aber 25 Stunden reichen, um sämtliche Bedürfnisse zu decken, dann pflanzen wir der Gesellschaft ein Stressgen ein. Arbeitslosigkeit ist nur ein Symptom. Wir verändern auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse: Die Multis und die Finanzmärkte regieren heute die Welt. Andere soziale Organisationen wie Staaten, Familien und Nachbarschaften verlieren an Einfluss. Wir können unser Leben nicht mehr selbst in die Hände nehmen.
Kommt dazu, dass die Globalisierung zwar die eigentliche Produktion verbilligt, dafür aber einen schon fast grotesken Aufwand für Marketing, Produktion und Lobbying nach sich zieht.
Das Modell der Globalisierung hat sich überholt. Die Ökonomie muss noch einmal von vorne beginnen und sich dabei auf die Grundlagen besinnen, so wie es die Medizinwissenschafter jetzt auch tun.
- Philipp Löpfe/Werner Vontobel: «Reiche Multis – arme Bürger. Die unsoziale Kehrseite der masslosen Unternehmensgewinne», Orell Füssli 2012, Fr. 26.90.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12