Ein Störfall im elsässischen Atomkraftwerk Fessenheim war offenbar gravierender als bisher zugegeben. Die Debatte um die Schliessung des ältesten französischen Meilers ist damit neu lanciert.
Erst im Februar hatte Fessenheim-Direktor Marc Simon-Jean erklärt, seine zwei Reaktoren seien «noch nie so sicher» gewesen wie heute. Nun erweist sich die Behauptung als ziemlich gewagt. Laut einer Pressemeldung vom 4. März verharmlosten die französischen Behörden einen Unfall in einem der zwei direkt am Rhein gelegenen Atommeiler im April 2014. Die AKW-Betreiberin Electricité de France (EDF) erklärte damals, im nicht-nuklearen Teil der Anlage sei Wasser in elektrische Schaltkästen eingedrungen, was zur automatischen Abschaltung geführt habe.
Offenbar stimmte das nicht. Ein publik gewordenes Schreiben der französischen Atomaufsicht ASN an die Fessenheim-Direktion hält fest, dass es nach dem Auslaufen von mehr als 3000 Litern Wasser infolge eines verstopften Rohres zeitweise unmöglich gewesen sei, die Steuerstäbe in einem Reaktorblock zu manövrieren. Dies wäre aber nötig gewesen, um die erhitzten Stäbe ins Kühlwasser einzutauchen.
Temperatur «aus dem Ruder gelaufen»
Da das System der automatischen Abschaltung ausfiel, beschloss ein Krisenteam, Bor in das Wasserbecken einzuleiten, was die Brennstäbe kühlen sollte. Der deutsche Nuklearexperte Manfred Mertins erklärte der «Süddeutschen Zeitung», die – unvollständigen – Angaben der ASN deuteten darauf hin, dass die Temperatur «aus dem Ruder gelaufen» sei und «minutenlang keine Informationen über den Zustand des Reaktorkerns» vorgelegen habe. Eine AKW-Abschaltung durch die Zugabe von Bor sei in Westeuropa noch nie nötig gewesen. Trotzdem stufte die ASN den Vorfall auf der Skala von 0 bis 7 nur auf der zweitniedrigsten Höhe 1 ein.
Reaktionen gab es vor allem von der anderen Rheinseite. Ein Sprecher der deutschen Umweltministerin Barbara Hendricks verlangte wie schon vor einem Jahr die raschestmögliche Stillegung Fessenheims. Auch Schweizer Kernkraftkritiker fordern seit Jahrzehnten die Stilllegung des 40 Jahre alten, nördlich von Basel gelegenen Atomkraftwerks, das nicht nur in einem Überschwemmungs-, sondern auch in einem Erdbebengebiet liegt.
Hollandes unerfülltes Versprechen
Seit Monaten steht es in Frankreich im Mittelpunkt einer energiepolitischen Debatte. Präsident François Hollande hatte bei seiner Wahl 2012 versprochen, den Atomanteil an der nationalen Stromproduktion bis 2025 von heute 75 auf 50 Prozent zu senken. Laut dem Rechnungshof in Paris würde dies die Abschaltung von mindestens 17 der 58 französischen Reaktoren bedingen. Die EDF baut aber in der Normandie sogar einen Druckwasserreaktor EPR der neuen Generation. Energieministerin Ségolène Royal will zudem die Laufzeit der französischen „centrales nucléaires“ (AKW) von vierzig auf fünfzig Jahre verlängern, wie sie im Februar erklärte.
Einzige Konzession der Rotgrün-Regierung ist die Schliessung von Fessenheim. Auch EDF-Vorsteher Jean-Bernard Lévy erklärte unlängst, er beabsichtige nur diesen Doppelreaktor stillzulegen. Und selbst das scheint aus Zeitgründen unsicher. Der Entscheid über die Fessenheim-Schliessung soll im Juni fallen. Doch Experten rechnen damit, dass die technische Abschaltung frühestens Ende 2018 erfolgen könnte. Bei den Präsidentschaftswahlen von Mai 2017 wird indessen mit einem Sieg der Konservativen gerechnet. Ihr chancenreichster Kandidat Alain Juppé hat dem Bürgermeister von Fessenheim vor wenigen Tagen schriftlich erklärt, er würde an dem AKW festhalten.
Spielball der Politik
Fessenheim-Direktor Marc Simon-Jean sagte seinerseits, die millionenschweren Sicherheitsarbeiten gingen wie geplant weiter; im laufenden Jahr beträfen sie unter anderem das Dispositiv gegen Überschwemmungen.
Die neuen Informationen über die Fessenheim-Panne dürften daran kaum etwas ändern. Die Chancen steigen zwar, dass die Schliessung im Juni formell beschlossen wird. Sollte die Rechte im nächsten Jahr aber an die Macht zurückkehren, würde das Tauziehen wieder von vorne beginnen. Und wohl auch über die Landesgrenzen hinaus: Die Pariser Medien berichteten am Freitag wie gewohnt sehr knapp über die neuen Störfallangaben – aber sehr ausführlich über den Umstand, dass die deutsche Regierung in Sachen Fessenheim «auf den Tisch haut», wie das Pariser Magazin le point feststellte.