Professorin Amy Glasmeier: «Smart Cities sind ein grosser Hype, keine Lösung»

Immer mehr Menschen leben in Städten. Mittels digitaler Vernetzung sollen die Metropolen die Menschenmassen intelligent bewältigen. Doch solche «Smart City»-Konzepte sind keine Lösung für die Herausforderungen der globalen Urbanisierung, davon ist die amerikanische Wirtschaftsgeografin Amy Glasmeier überzeugt.

Amy Glasmeier: «Das Verständnis für die Möglichkeiten neuer Technologien ist aufseiten der Unternehmen viel grösser als aufseiten der Stadtverwaltungen.»

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Immer mehr Menschen leben in Städten. Mittels digitaler Vernetzung sollen die Metropolen die Menschenmassen intelligent bewältigen. Doch solche «Smart City»-Konzepte sind keine Lösung für die Herausforderungen der globalen Urbanisierung, davon ist die amerikanische Wirtschaftsgeografin Amy Glasmeier überzeugt.

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Laut UNO werden es bis 2050 über 65 Prozent sein; in entwickelten Regionen sogar bis zu 81 Prozent. Folgt man der Urbanisierung und dem Bevölkerungswachstum, bräuchte es bis 2030 zusätzlich zu den 23 bestehenden Megastädten 18 Städte mit je zehn Millionen Einwohnern.

Städte sind der Nabel der Welt und sie sollen immer intelligenter werden. In «Smart Cities» vernetzen sich nicht nur die Menschen untereinander, sondern auch Autos, Maschinen und Orte des öffentlichen Lebens. Die Stadt wird zum Zentrum des «Internets der Dinge». Erste Beispiele solcher «intelligenten» Städte sind Songdo-City in der Nähe der koreanischen Hauptstadt Seoul oder Masdar in den Vereinigten Arabischen Emiraten. 

Sensoren und neuste Kommunikationstechnologien produzieren Daten, dank derer die Effizienz, die Nachhaltigkeit und die Lebensqualität gesteigert werden soll. Die Marktforscher von Frost & Sullivan rechnen mit weltweit 26 «Smart Cities» bis 2025 und schätzen das Marktvolumen auf über 1,5 Billionen Dollar. Wirtschaftlichen Profit werden daraus vor allem grosse Technologieunternehmen wie IBM, Cisco und Siemens schlagen.

Amy Glasmeier, Professorin am Department of Urban Studies & Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT), gehört zu den berühmtesten Kritikerinnen des «Smart City»-Konzepts. Sie wurde vor allem mit ihrer Forschung zu Armut und Mindestlöhnen in den USA bekannt und beschäftigt sich derzeit intensiv mit Herausforderungen der globalen Urbanisierung. Wir trafen Glasmeier in Basel zum Gespräch, wo sie im Rahmen des fünften «World Sustainability Forum» einen Vortrag hielt.

Frau Glasmeier, was hat Sie als Geografin dazu gebracht, sich mit «Smart Cities» auseinanderzusetzen?

Während meiner Karriere habe ich bereits mehrere Versuche erlebt, eine neue Erzählung für die nächste Ära der Urbanisierung zu finden; oft verbunden mit technologischen Utopien. Der Diskurs um «Smart Cities» ist der neuste Versuch. Ich hatte all diese grossen Versprechungen schon mal gehört und wollte herausfinden, ob die «Smart City»-Bewegung Lösungen für Probleme findet, die in früheren Initiativen ungelöst blieben.

Zum Beispiel?

In den 1980er-Jahren hiess es: Siedelt «smarte» Unternehmen in eurer Region an, dann wird diese auch wirtschaftlich boomen. Doch die Hightech-Industrie hat für arme Bevölkerungsschichten keine Jobs gebracht und sie nicht reich gemacht. Die Schulen in den Städten wurden nicht besser und die meisten sozialen Herausforderungen wurden nicht angegangen.

Und wie lautet die grosse Verheissung diesmal?

Heute wird verkündet: Macht eure Städte «smart», dann werden sich automatisch auch Unternehmen dort niederlassen und die Region wird prosperieren. Wenn ich Bürgermeister danach frage, weshalb sie an «Smart City»-Initiativen interessiert sind, dann heisst es immer: Wir wollen unsere wirtschaftliche Attraktivität steigern, wir wollen effizienter und konkurrenzfähiger werden.

«Die Energie ist wie das Kreislaufsystem einer Stadt, das alles antreibt. Aber niemand spricht über die Kabel und Röhren, die dafür nötig sind.»

Weshalb?

Ohne Jobs bleibt die ursprüngliche Hoffnung der Migrantinnen und Migranten unerfüllt. Doch zurück ins Heimatdorf können sie nicht mehr, weil viele zu Hause von ihrem Land verdrängt wurden. Sie sind dadurch gefangen in Lebensumständen, in welchen niemand leben möchte und die sehr ungesund sind. Das führt zu psychischen Krankheiten, zu Missbräuchen in Familien, zu Vergewaltigungen. Frauen schliessen sich ein, weil es draussen zu gefährlich ist, und haben nicht einmal genügend Geld, um mit der zurückgelassenen Familie zu telefonieren. Eine ganze Generation Migrationskinder wächst aktuell in einer Atmosphäre des Frusts auf. Menschen sind schlicht nicht dafür gemacht, solchen Stress auszuhalten. Akute Depressionen und Paranoia sind gerade dabei, die vorherrschenden Krankheiten in Grossstädten des 21. Jahrhunderts zu werden.

Die Stadt ist also längst kein Garant mehr für ein besseres Leben.

Nein, das sehen wir auch in China. Es gibt Studien und Statistiken, welche die psychologischen Konsequenzen der Migration und die danach erlebte wirtschaftliche Unsicherheit in Städten untersuchen. Viele Menschen zeigen Symptome von posttraumatischem Stress. Dies in einer Häufung, wie wir sie nicht kannten. Das erfordert komplett neue Entwicklungsmodelle und es gibt genügend wissenschaftliche Evidenz, dass wir nicht auf gutem Weg sind.

Aktuell zeigen sich auch Entwicklungs- und Schwellenländer an «Smart City»-Technologien interessiert. IBM hat in Rio de Janeiro im Zuge der Fussball-WM 2014 eine Zentrale gebaut, um Informationen aus unterschiedlichen Stadtverwaltungs-Diensten zu kombinieren und auszuwerten. Eine Art Kontrollraum für eine Zwölf-Millionen-Stadt. Ist das nicht ein gelungenes Beispiel für eine «Smart City»?

Dank neuen Frühwarnsystemen konnten die Risiken durch Naturgefahren für die Bewohner der Favelas wahrscheinlich etwas reduziert werden. Aber die Systeme haben nichts an der Existenz der Favelas geändert oder an den Bedingungen, die dazu geführt haben, dass die Menschen dort leben. Auch wenn sich die Situation für viele Menschen vielleicht etwas verbessert – die grundsätzlichen Probleme einer Gesellschaft werden durch solche Massnahmen nicht angegangen. Auch hier stellt sich die Frage: Wer profitiert von alldem? Niemand weiss, wie das IBM-System finanziert wurde und was das Ganze gekostet hat. Das wurde niemals publiziert.

«CEOs wären glücklich, wenn ihre Technologien auch zu einer Verbesserung der sozialen Situation führen würden. Aber auch sie merken sehr schnell, wie schwierig es ist, im urbanen Chaos zu arbeiten.»

Glauben Sie wirklich, dass die grossen Technologie-Konzerne sich an gutgläubigen und willfährigen Stadtverwaltungen bereichern?

Es gibt in dieser Geschichte keine «Bad Guys». Die CEOs solcher Unternehmen kommen manchmal ans MIT, was mir die Gelegenheit gibt, mit ihnen zu sprechen. Natürlich wären sie glücklich, wenn ihre Technologien auch zu einer Verbesserung der sozialen Situation führen würden. Aber auch sie merken sehr schnell, wie schwierig es ist, im urbanen Chaos zu arbeiten, zum Beispiel das Vertrauen der Menschen zu gewinnen oder Korruptionsversuchen zu entgehen.  

Ihre Kritik an «Smart City»-Konzepten erstaunt insofern, als Sie an einer Universität lehren, welche die weltbesten Ingenieure ausbildet. Forscher am MIT präsentieren praktisch täglich neue technologische Erfindungen.

Ja, ich lebe in einer Welt voller Erfinder und Gadgets. Aber brauche ich wirklich ein Internet 5.0, wenn 4.0 auch funktioniert? Wenn ich in einer der Megastädte des globalen Südens leben würde, wäre ich zufrieden mit den Basics: Sicherheit, sauberes Wasser, keine Luftverschmutzung und die Möglichkeit, die wichtigsten öffentlichen Einrichtungen zu Fuss oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen.  

Welche Stadt finden Sie persönlich «smart»?

Ich war soeben in Barcelona. Da hatte ich das Gefühl, dass die Stadt gut funktioniert, was den Einsatz von Sensortechnologien, die Organisation der Abfallentsorgung, die Beleuchtung, die Steuerung des öffentlichen Verkehrs betrifft. Barcelona scheint eine Stadt zu sein, die um die Leben und Erfahrungen der dort lebenden Menschen gebaut wurde. Genau das macht eine intelligente Stadt aus.

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