Raus aus dem Hamsterrad

«Es ist die Hölle», schreiben die «Zeit»-Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing in ihrem Buch «Geht alles gar nicht» über das neue Vatersein. Wie sehen das Schweizer Väter?

Erfolg in Beruf, Familie und Partnerschaft – schön wärs. Im Alltag lässt sich das alles nur schwer unter einen Hut kriegen.

(Bild: Nils Fisch)

«Es ist die Hölle», schreiben die «Zeit»-Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing in ihrem Buch «Geht alles gar nicht» über das neue Vatersein. Wie sehen das Schweizer Väter?

Sind Beruf, Familie und Partnerschaft wirklich unter einen Hut zu kriegen, wie sich das viele junge Familien wünschen? Marc Brost und Heinrich Wefing, zwei leitende Redaktoren der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», behaupten: Nein. «Geht alles gar nicht.»

Das gleichnamige Buch wird in Deutschland heftig diskutiert. Endlich realisierten auch die Männer, was für das weibliche Geschlecht schon seit Jahren schwierig sei, meinen kritische Frauen. Andere Rezensenten stimmen in den Klagegesang ein: Ja, all das, was unsere Generation heute zu leben versuche, erfordere einen extremen Spagat – bis hin zur völligen Verausgabung.

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«Unsere ganze Service-Industrie ist komplett familienfeindlich» – ein Interview mit den beiden «Zeit»-Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing über die Unmöglichkeit, Kinder, Karriere und Partnerschaft zu vereinbaren.

Männer und Frauen haben heute gleichermassen fordernde und erfüllende (oder auch einfach nur: finanziell notwendige) Berufe, die sie beide selbst mit der Familiengründung nicht aufgeben wollen oder können, schreiben Wefing und Brost. Wer sich für eine gleichberechtige Partnerschaft und Familienführung entschieden habe, finde sich allzu bald im Hamsterrad wieder: Krippen haben ungünstige Öffnungszeiten, Kinder sind häufiger krank, als es der Arbeitgeber erlaubt, Arbeitszeiten sind zu unflexibel, kinderlose Kollegen stehlen den Familienmenschen die Karrierechancen – und für die Partnerschaft bleibt bei all der Familienarbeitsteilung erst recht keine Zeit.

Die Scheidungsquote von rund 50 Prozent belege dies glaubhaft, meinen die Autoren. «Es ist die Hölle», schreiben sie schon auf der ersten Seite. Und illustrieren diese Hölle mit zahlreichen Interviews mit Vätern, die von ihren Glücksmomenten, den Schattenseiten der neuen Rollenverteilung und vor allem von viel Ohnmacht gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Strukturen erzählen.

Wie empfinden Schweizer Väter ihre Situation? Lassen sich hier Beruf, Familie und Partnerschaft besser unter einen Hut kriegen?

Lernen, Nein zu sagen

Julian* ist 43 Jahre alt. Er hat zwei Kinder, ein Mädchen (6) und einen Buben (9). Er arbeitet in einem 75-Prozent-Pensum als Allgemeinmediziner in einer Gruppenpraxis in Basel. Seine Frau ist Musikerin und arbeitet genauso viel wie er – «mindestens!», lacht er. Ihre Konzerttermine liegen oft am Wochenende, die Unterrichtszeiten fallen in die Woche. Von Anfang an haben sich die beiden die Kinderbetreuung geteilt, derzeit schaut er zwei Nachmittage pro Woche und oft an den Wochenenden nach ihnen.

Nach dem Krippen-Alter wurde ein Mittagstisch für die Kinder nachbarschaftlich organisiert. Stressig fand er es nie, Beruf und Familie zu vereinbaren: «Ich habe gelernt, Nein zu sagen: Nein zu wissenschaftlicher Arbeit, zu Sonderprojekten, zu Kommissionen. Ich konzentriere mich stattdessen auf das Kerngeschäft.» Und er fügt hinzu: «In meinem Umfeld gibt es kaum jemanden, der Kinder hat und zu 100 Prozent arbeitet.»

Hat der Stress, von dem bei Brost und Wefing auf jeder Buchseite zu lesen ist, vielleicht auch mit den spezifischen wirtschaftlichen Verhältnissen in Deutschland zu tun? «Es trägt sicher deutlich zur Entspannung bei, dass man in der Schweiz als Familie oft ohne finanzielle Sorgen von zwei Teilzeitgehältern leben kann», meint Julian. Und generell sei es für Schweizer Väter viel eher möglich, im Job zu reduzieren, wenn die Kinder kommen: «Die Kombination von hohen Gehältern und annähernder Vollbeschäftigung ermöglicht flexiblere Pensen.» Sofern man das natürlich wolle, denn alles könne man nicht haben. Wer beruflichen Erfolg und maximales Geldverdienen mit eigenem Haus und zwei Autos als entscheidende Lebensqualität empfindet, der müsse eben auf Zeit und Beziehungsintensität mit seinen Kindern verzichten.

Die Geschichten von Marc Brost und Heinrich Wefing, in denen von der Unabdingbarkeit des sonntäglichen E-Mail-Lesens und der Gedankenabwesenheit während des Ausnahmsweise-Fussballspielens mit dem Sohn berichtet wird, amüsieren Julian. Er sagt schlicht: «Es gibt keinen Tag, an dem ich mehr arbeiten muss, als ich möchte. Ich bin Arzt, organisiere eine offene Bühne, habe ein Bed & Breakfast, und Zeit für meine Frau und meine Kinder. All das bringt mir Erfüllung, nichts davon möchte ich missen.»

Für die Karriere wirds schwierig

Natürlich, eine Spitalkarriere liege mit seiner Haltung nicht drin, aber die wolle er ohnehin nicht. Doch auch er kennt Kollegen aus dem grossen Nachbarkanton, die gern und häufig über ihre Arbeitsbelastung klagen – und dennoch im Spital jedes wissenschaftliche Sonderprojekt gerne annehmen. Fast so, als seien sie Opfer ihrer eigenen, selbstgewählten Entscheidungen.

Hans-Jörg* (44) lebt in Baden. Seine beiden Töchter sind 9 und 6 Jahre alt. Er arbeitet als Architekt, zu 80 Prozent. Seine Frau ist zu 70 Prozent als Lehrerin für bildnerisches Gestalten angestellt. «Am Mittwochnachmittag bin ich der einzige Mann auf dem Spielplatz», sagt er. Er beobachte ein starkes Stadt-Land-Gefälle. «Hier in Baden haben viele ein eigenes Haus, das natürlich finanziert werden muss. Wenn der Mann beispielsweise Naturwissenschaftler ist und die Frau Kindergärtnerin, dann kostet eine Pensenreduktion des Mannes so viel, wie die Frau nie verdienen könnte. Also bleiben die Frauen auch aus ökonomischen Gründen zu Hause.»

In seinem Bekanntenkreis funktioniert diese klassische Rollenverteilung gut: «Die Frau ist vom Mann finanziell abhängig, der Mann von der Frau der Kinder wegen – und Abhängigkeit hält auch zusammen.» Er und viele Grossstädter leben gleichberechtigter. «Jeder will unabhängig bleiben, deshalb verdient jeder sein eigenes Geld. Diese Beziehungen sind vielleicht auch brüchiger – wenn man auf eigenen Beinen steht, kann man jederzeit gehen.»

Ob er selbst bei der Karriere zurückstecken musste, als die Kinder kamen? «Natürlich spielt es eine Rolle, dass ich eine Familie habe und mich auch an zwei Nachmittagen um die Kinder kümmere», sagt Hans-Jörg. «Ich bearbeite nicht mehr die ganz grossen Projekte» – so müsse er nicht permanent erreichbar sein, so lassen sich Familie und Beruf gut vereinbaren.

Empfand er dennoch Stress in der vergangenen Zeit? «Ja, wenn man jeden Termin abfragen muss, ob es geht oder nicht… Da gab es Momente, in denen ich mir insgeheim gewünscht hätte, dass meine Frau zu Hause geblieben wäre. Aber das kam selten vor. Heute könnte ich mir das für unsere Partnerschaft nicht vorstellen, dass wir uns nur über Familienthemen – und nicht über berufliche – austauschen könnten. Man hat auch mehr Verständnis für den anderen, für seine beruflichen Wünsche, sowie auch für Stressphasen.»

Vorbildlicher Arbeitgeber

Michael* (35) ist Vater von dreijährigen Zwillingen. Seine Frau arbeitet zu 80, er zu 90 Prozent. Beide sind Architekten in Basel. Für die Zwillinge haben sie ein gutes «Tagi» gefunden, «in dem die Kinder Sachen erleben, die wir ihnen so gar nicht ermöglichen könnten», erklärt Michael.

Dass seine Frau ganz mit den Kindern zu Hause bleibe, sei für beide nicht in Frage gekommen. «Dass sich nur eine Person – und nicht etwa eine Grossfamilie – um die Kinder kümmert, ist ja relativ neu und erst seit der Industrialisierung üblich», sagt er. «Das stelle ich mir auch für die Kinder langweilig vor.»

Sein Arbeitgeber hat auf den Reduktionswunsch sehr gut reagiert: «In unserem Büro arbeiten fast alle Väter 80 Prozent. Unsere Chefs sehen es als langfristige Investition in den Mitarbeiter, so etwas zu ermöglichen. Wenn sich der Mitarbeiter wohl fühlt und Beruf und Privatleben kombinieren kann, dann leistet er auch bessere Arbeit», sagt er. Den von Brost und Wefing genannten «Knick in der Karriere» wegen des Familienengagements stellt Michael nicht fest. Sein Karrieretempo passe sich im Gegenteil dem Lebensrhythmus der Familie an.

Brost und Wefing zitieren in ihren Fallbeispielen einen Architekten, der permanent erreichbar sein muss, was die Familienzeit enorm beeinträchtige. Michael sieht das nicht so: «Den Architekten wird schon im Studium eingebläut, dass Mehrarbeit zu besseren Ergebnissen führt. Dem ist aber nicht immer so.» Am Wochenende stehe die Baustelle schliesslich auch still. Und gelegentliche Mehrarbeit bei Projektabschluss gebe es auch in anderen Bereichen. «Es ist eine persönliche  Entscheidung, ob man permanent erreichbar sein will oder nicht. Das ist eher eine Frage des Lebensstils als eine tatsächliche Notwendigkeit.»

Familienfreundliches Bauen

Was in der Schweiz aber verbessert werden könnte, sei die Wohnbaupolitik, meint Julian. Gute Nachbarschaftshilfe sei mit keiner institutionellen Lösung aufzuwiegen, ist er überzeugt. Er selbst wohnt im Kleinbasel in einer sozial durchmischten Überbauung mit Garten und Spielplatz für die Kinder. Man müsse mit mehr Sinn für die Gemeinschaft bauen, sagt er – etwa wie in der Zürcher «Kalkbreite». Damit liessen sich viele Synergien nutzen – und die Wohn- und Lebensqualität steigern.

Und Michael sagt: «Ich habe schon in verschiedenen Ländern gelebt, da nimmt die Systemgläubigkeit ab. Ich schaue, wie ich mich innerhalb des Systems, in dem ich lebe, organisiere. Aber wenn man nur ein System kennt, dann will man oft lieber das System ändern als sich selbst.»

Ein Punkt fällt ihm aber doch ein: «Die Kinderbetreuung könnte besser bezuschusst werden. In keinem Land müssen Arbeitnehmer so hohe Beiträge zahlen wie in der Schweiz. Unser Gesellschaftsmodell ist noch immer darauf angelegt, dass das Mami zu Hause bleibt.»

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* Namen d. Redaktion bekannt.

Literaturtipp: Marc Brost, Heinrich Wefing: «Geht alles gar nicht», Rowohlt, 240 Seiten, ca. 18 Franken.

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