Schülerinnen und Schüler, die zwischen Mathe-Aufgaben Yoga machen und im Grossraum-Klassenzimmer lernen. Ein Besuch an der Theobald Baerwart Schule, die Neues probiert.
Montagmorgen, 8 Uhr. Malik, Salma und Agron kommen in ihr Schulzimmer. Die Pulte stehen in Vierer-Gruppen zusammen, eine Metallabdeckung schirmt sie vom Nachbartisch ab. An den Pulten kleben Namensschilder, Bilder von FCB-Spielern und Familienfotos.
Hier an der Theobald Baerwart Sekundarschule sollen sich die Schülerinnen und Schüler wohlfühlen. Das Lernatelier, in dem rund 60 Pulte stehen, ist ihr Rückzugsort, ihr zweites Zuhause. Hier lernen sie sieben Stunden pro Woche «selbstgesteuert», wie es im Fachjargon heisst.
Frontalunterricht heisst hier nicht Frontalunterricht, sondern Input, Klassenlehrer heissen Lerncoaches und Schülerinnen und Schüler lernen in verschiedenen Niveaugruppen fast ganz alleine, so die neue Schulphilosophie, die hier umgesetzt wird.
Fünf Schulen in Basel-Stadt arbeiten bereits mit solchen Ateliers. Die Lernform ist umstritten: Schulreform-Gegner schimpfen über die Lernlandschaften, in denen Schülerinnen und Schüler allein gelassen würden, Lehrpersonen graut es vor längeren Arbeitszeiten, weil die Ateliers mehr Betreuungsaufwand erfordern, und Eltern sorgen sich, weil die Schule, so wie sie war, verschwindet.
Der Morgen beginnt mit einer Begrüssung im Raum nebenan. Vier Lehrpersonen und 60 Schülerinnen und Schüler besprechen die anstehende Woche. Themen sind: Töggeli-Turnier, Mensa-Quiz und Schullager. Man merkt, hier dreht sich nicht alles ums Lernen. Schule soll auch Spass machen.
Nach 20 Minuten werden die Aufgabenblätter verteilt. Darauf steht, was die Schülerinnen und Schüler in den Atelier-Stunden erledigen müssen. Es gibt auch leere Felder zum Ankreuzen: «Diese Woche habe ich Bock gehabt», steht da. Oder: In dieser Woche habe man ein «kleines Schwätzchen» oder «Spässchen» zurückschieben können. Denn: «Spässchen sind auf Dauer einer der grössten Gute-Note-Killer.»
Wem die anderen Schüler zu laut sind, der setzt die Lern-Pamir auf. (Bild: Simone Janz)
Das Morgentreffen ist vorbei. Malik verlässt den Raum, ein Schüler neben ihm sagt: «So viel zu tun in Deutsch, ich sags dir, Alter.» Malik geht ins Lernatelier zu seinem Pult am Fenster und packt die Stifte aus.
Einige Schülerinnen und Schüler sitzen an ihren Plätzen, andere stehen noch und unterhalten sich in gedämpfter Lautstärke. Dann geht eine Gruppe zum Test, eine andere geht zum Deutschunterricht im Zimmer nebenan. Nur noch eine Handvoll Schülerinnen und Schüler bleibt im Raum. Es ist still.
Atelier-Aufgaben statt Hausaufgaben
Malik erklärt: «Im Unterricht bleibt fast nichts im Kopf.» Hier lerne er das, was auf dem Blatt steht, für sich alleine. «Das macht mehr Spass.» Wenn er seine Aufgaben hier erledigt, bleibe mehr Zeit zu Hause. Das gefällt Malik.
Die Schule setzt weniger auf Hausaufgaben. Die Aufgaben, die den Lehrpersonen wichtig sind, sollen die Schülerinnen und Schüler vor Ort erledigen, wenn nötig mit Hilfe.
Die Sprache ist auf die Jugendlichen zugeschnitten. (Bild: Simone Janz)
Salma sagt, sie habe im Lernatelier bis jetzt nur gute Erfahrungen gemacht. Die 14-Jährige mit krausen Haaren erklärt: «Ich lerne eher, für mich zu sein und auch konzentrierter zu arbeiten.»
Natürlich könne man nicht immer konzentriert sein. Das sei aber kein Problem, denn es gebe Material, um sich anderweitig zu beschäftigen. «Wir können zum Beispiel Matten nehmen und darauf Yoga machen – das haben wir einmal getan. Das ist eine Ablenkung, wenn man keine Lust hat zu arbeiten oder sich nicht mehr konzentrieren kann.»
Mehr Aufwand für Lehrer
Heiko Vollmer betreut gerade das Atelier. Der 42-jährige Mathematik- und Sportlehrer mit Bart und Funktionsjacke sieht aus, als käme er gerade von einer Hochalpin-Tour. Er sagt: «Ich war selbst überrascht, wie gut das Lernen im Atelier funktioniert.»
Die soziale Komponente steht für ihn im Vordergrund: «In den Ateliers findet ein enorm wichtiger Austausch statt. Egal, ob jemand ein Studium anvisiert oder eine Lehre machen will – hier treffen sie sich und lernen, miteinander umzugehen.»
Für die Lehrer bedeute die neue Lernform höhere Präsenzzeiten. Weil in den Atelier-Stunden mindestens zwei Lehrpersonen pro Gruppe dabei sind, ist Vollmer länger beschäftigt. Er sitzt beispielsweise als Co-Betreuer im Deutsch-Atelier. Insgesamt hat er sechs Stunden extra, in denen er theoretisch seinen Unterricht vorbereiten kann.
In der Praxis sei das kaum möglich, sagt Vollmer. «Wenn Schülerinnen oder Schüler eine Frage haben, helfe ich dann auch häufig, so dass ich den Grossteil meiner Stunden-Vorbereitungen zu Hause erledigen muss.»
Heiko Vollmer spricht mit einigen Schülern nach der Schulstunde. (Bild: Simone Janz)
Weil mehr Stunden anfallen, kommen die Lernateliers nicht bei allen Lehrpersonen gut an. An der Vogesen Sekundarschule wehrten sich die Lehrerinnen und Lehrer gegen das neue Modell. Der Sprecher des Erziehungsdepartements, Simon Thiriet, sagt, dass sich der Widerstand nicht grundsätzlich gegen die Lernateliers richtete, sondern nur gegen das Arbeitszeitmodell.
Ein Insider erzählt, das Problem liege darin, dass es am Vogesen Schulhaus zwei Lernformen gibt. Unterrichtet wird nach wie vor nach klassischem Klassenmodell sowie in Lernateliers. So gibt es Lehrpersonen, die mehr Stunden haben als andere – was unweigerlich zu Streit führe. Thiriet sagt, das Arbeitszeitmodell sei mittlerweile akzeptiert. Die Entwicklung werde eng beobachtet, «allenfalls sind noch weitere Anpassungen nötig».
Motivierte Lehrpersonen
An der Theobald Baerwart Schule gibt es wenig Diskussionen über die höhere Stundenzahl. Die Schulleiterin Tove Specker erklärt: «Wir hatten das grosse Glück, dass wir die Lernateliers mit Leuten eingeführt haben, die so arbeiten wollten.»
Sie wisse von wenigen Lehrpersonen, die damit nicht vollends zufrieden seien. «Konkret gibt es zwei Personen, die äussern, dass sie gerne woanders arbeiten würden.» Um neue Lernformen auszuprobieren, brauche es motivierte Lehrpersonen – «aber solche Leute braucht es eigentlich überall», schiebt Specker nach. Aktuell würden einige Stellen neu besetzt, die Nachfrage danach sei riesig.
Agron, Kapuzenpulli und Flaumschnauzer, kommt vom Test zurück. Er und zwei Gschpänli schwatzen laut miteinander. Vollmer, der das Atelier betreut, ruft: «Scht! Seid bitte etwas leiser.» Die drei reagieren sofort und sprechen in gedämpftem Ton weiter. Arbeitslaune kommt bei den dreien nicht mehr auf – es sind noch zehn Minuten bis zur Pause.
Auch Agron geniesst es, seine Aufgaben in der Schule machen zu können und nicht zuhause. Das Lernatelier findet er sinnvoll, weil er zuerst seinen Nachbarn fragen könne, wenn er etwas nicht versteht. Erst dann geht er zum Lehrer.
Von der Allein-Performer-Situation wegkommen
Gaby Hintermann, die Deutsch unterrichtet, findet, im Lernatelier bleibe mehr Zeit für individuelle Förderung als beim Frontalunterricht. «Im Atelier sehe ich eher, wer gerade nichts tut.» Die Ateliers seien ein Versuch, «von der Allein-Performer-Position der Lehrperson etwas wegzukommen.» Sie würden den Schülerinnen und Schülern Raum geben, etwas für sich selbst zu tun.
Sie sollten indes nicht den Frontalunterricht ersetzen, sagt Hintermann, die neben ihrer Lehrerstelle die Kantonale Schulkonferenz präsidiert und der Freiwilligen Schulsynode vorsteht. «Beide Lernformen haben ihre Berechtigung. Sie sollten in einem guten Verhältnis zueinander stehen.»
Nach drei Atelier-Lektionen gehen die Schülerinnen und Schüler in die grosse Pause. (Bild: Simone Janz)
Die Lernateliers gibt es an der Theobald Baerwart Schule seit eineinhalb Jahren. Nach drei Jahren will die Schulleitung Bilanz ziehen und das Modell überprüfen. Grundsätzlich werde man bestimmt nichts ändern, sagt Schulleiterin Tove Specker. «Möglich aber, dass es noch Anpassungsbedarf gibt.»
Kurz vor 11 Uhr leeren sich die Atelier-Räume. Die Schülerinnen und Schüler gehen in die grosse Pause. Danach haben sie Sport. Ganz ohne Experimente.