Jeder Pendler kannte ihn: In durchdringendem Basston pries Wolfgang Kreibich das Strassenmagazin «Surprise» am Bahnhof SBB an. Ein Nachruf auf den Menschen hinter der Stimme.
«Das ist ja mein Surprise-Verkäufer!», rief die Krankenschwester erschrocken aus, als sie in der Hektik der Situation den Herzinfarktpatienten näher anschaute, den sie gerade in den Operationssaal fuhr. Die Szene ereignete sich vor knapp sechs Jahren – man kannte Wolfgang Kreibich in Basel, schon damals.
Sein «Süüpriise! Süüpriise!» in tiefem, sonorem Basston durchdrang den ganzen Bahnhof. Kreibich war ein leidenschaftlicher «Surprise»-Verkäufer. Und einer, der sein Business verstand: Akribisch führte er Buch über den Absatz, seine Pausenzeiten richtete er nach den statistischen Erkenntnissen. Mit grossem, beblumtem Strohhut oder lichterbehangenem Riesenzylinder präsentierte er weit sichtbar die neueste Ausgabe des Strassenmagazins.
Kreibich war keiner, der sich leicht unterkriegen liess.
Es war ein herber Schlag für ihn, als die SBB das Ausrufen im Bahnhof verboten. Aber Kreibich war keiner, der sich leicht unterkriegen liess. Wie er auf seinen Stadtführungen stolz erzählte, trickste er die Autoritäten aus, indem er sich beim Eingang in die neutrale Zone zwischen SBB-Grund und Allmend stellte – und umso inbrünstiger «Süüpriise! Süüpriise!» in die Schalterhalle hineinrief.
Ob in der Rolle als Ausrufer, als Strassenchorsänger, als sozialer Stadtführer oder als Schauspieler im «Surprise»-Theaterstück: «Kreibich wollte die Leute berühren – er hat es immer geschafft. Seinem Charme konnte sich niemand entziehen, weder Männer noch Frauen», sagt Sybille Roter von Surprise, die gemeinsam mit ihm den sozialen Stadtrundgang aufgebaut hat.
So begnadet er als Geschichtenerzähler war, so ungern sprach er über seine Vergangenheit.
Es war im März 2007, als Kreibich bei «Surprise» anklopfte, nicht lange nach seiner Ankunft in Basel. Die Liebe, erzählte er, sei es gewesen, die ihn aus dem heimatlichen Essen in Deutschland fortgetrieben habe. So genau war das nie zu erfahren. Denn so begnadet er als Geschichtenerzähler war, so ungern sprach er über seine Vergangenheit. Seine Eltern, so viel erzählte er, seien aus ihrer Heimat vertriebene Sudetendeutsche gewesen. Und sicher ist, dass die Erfahrung der Ausgrenzung sein Leben prägte.
«Ich habe immer gegen die Ausgrenzung gekämpft», sagte er zu Roter nach dem Besuch des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Der Besuch der Gedenkstätte anlässlich einer Weiterbildungsreise der Stadtführer hatte ihn tief bewegt. Neben der ansteckend fröhlichen, kannte Kreibich auch eine dunkle Seite. Immer wieder fiel er in schwere Depressionen, so auch im Jahr 2009. Damals erlitt er dazu seinen ersten Herzinfarkt. Trotz mehreren Operationen trug er körperliche Folgeschäden davon – er hatte lange versucht, die Schmerzen zu unterdrücken und zu verbergen, bis er sich dann doch noch ins Spital bringen liess.
Kreibich kämpfte sich auch aus dem Depressionstief heraus. Nach mehreren Jahren begeisterten Engagements in all seinen Jobs und Projekten und der Krönung seines Liebesglücks mit einer bewegenden Hochzeit, kam die Depression im Mai letzten Jahres mit voller Wucht zurück. Kreibich zog sich nach Tecknau zurück, in den hintersten Zipfel des Baselbiets.
Er starb beim Ausüben seiner Arbeit auf der Strasse in Gelterkinden.
Dann, Anfang dieses Jahres, sah er wieder Licht am Ende des Tunnels. Ende letzter Woche holte er sich Hefte am Bahnhof Basel und stellte sich in Gelterkinden auf die Strasse, um seine Arbeit wieder aufzunehmen. Auch seinen Wiedereinstieg bei den Stadtrundgängen plante er in den nächsten Tagen oder Wochen. Gleichzeitig war ihm bewusst geworden, dass sein Körper stark unter seinem ungesunden Ess- und Trinkverhalten gelitten hatte und er meldete sich für eine ärztliche Untersuchung an.
Dazu kam es nicht mehr. Kreibich erlitt einen Herzstillstand und brach zusammen. Die Reanimierungsversuche der Rettungssanitäter blieben erfolglos. Wolfgang Kreibich starb letzten Montag im Alter von 55 Jahren, beim Ausüben seiner Arbeit auf der Strasse in Gelterkinden.