Sex im «Traumland»

Neue Filme zeigen, wo Prostitution anfängt: in den ehelichen Schlafzimmern.

Augen zu und durch: Das bulgarische Strassenmädchen Mia (Luna Mijovic) verkauft seinen Körper.

Neue Filme zeigen, wo Prostitution anfängt: in den ehelichen Schlafzimmern.

Rolf (André Jung) kauft im Schein der Zürcher Weihnachtsbeleuchtung Geschenke ein. Das Fest der Liebe steht bevor. Rolf beschert sich auch gleich selbst. Er schenkt sich den Besuch – einer Prostituierten. Mitten in der weihnächtlichen Stille entwickelt sich das Drama. Rolf ist ein netter Freier. Fast möchten wir hoffen, dass es ihm gelingt, was er vorhat: die Prostituierte auf einen Heiligabend bei sich einzuladen. Aber gibt es das überhaupt? Nette Freier?

Die Prostitution war immer eine Bedrohung des häuslichen Friedens. Während man in Schweden seit Jahrzehnten die Freier beim Sex-Kauf unter Strafe stellt, denkt man in Frankreich wieder darüber nach, Sex-Verkäuferinnen für ihre Erwerbstätigkeit zu bestrafen. Die Liberalisierung ab den 1970ern hat die Geschäfts­idee Sex-Work – bei gleichzeitig steigenden Preisen – etwas aus der Schmuddel-ecke geholt, nicht aber die Situation in den Wohnzimmern verändert.

Filmemacherin Petra Volpe hat für ihren Spielfilm «Traumland» fünf Jahre lang recherchiert – und dabei festgestellt, dass «viel gelogen und betrogen wird, und viele Familien auseinanderfallen – wegen Sex». Warum? «Wir sind sexuelle Wesen – unsere Natur ist darauf ausgerichtet, sinnlich in der Welt zu sein, neugierig und begehrend, und wir wollen begehrt werden.»

Gleichzeitig verleihen Kriege und Reichtumsschere dem Menschenhandel weltweit Schub: Jeder dreissigste Mensch auf der Welt ist laut Unesco Migrant. Auf der Suche nach Lohnarbeit treffen Frauen auf Menschenhändler, welche sie fürs älteste Gewerbe verdingen. Für die Ich-AG «Sex» bedeutet das Brutalisierung der Konkurrenz.

Sinn fürs Geschäft

«Die Rotlichtwelt hält uns einen Spiegel vor», sagt Volpe, «und zeigt uns viel über die Machtverhältnisse in der Gesellschaft. In ‹Traumland› geht es darum, wie die Mächtigen mit den Menschen umgehen, die in der sozialen Hierarchie ganz unten sind, und was das über sie erzählt.»

Die käufliche Liebe blüht dort, wo in den Ehebetten Flaute herrscht. Auch im Wellness-Bereich gewinnt Sex-Work im Wohlstandsland einen neuen Stellenwert.

Volpe ist nicht die einzige Filmschaffende, die sich auf Erkundung der Prostitution gemacht hat. Der Bündner Filmemacher Men Lareida zeigte an den Solothurner Filmtagen «Viktoria – A Tale of Grace and Greed», der die Hoffnungen einer jungen Roma-Frau entzaubert – bezeichnenderweise offenbart der Bündner Filmemacher eine männliche Sicht auf die Prostitution.

«Traumland» zeigt Prostitution als Symptom, nicht als Problem.

Wie sehr Prostitution wieder zum (Film-)Politikum wird, offenbarte sich auch an den Berliner Filmfestspielen: In Tatjana Turanskyjs Film «Top Girl» ebnen sich mehrere junge Frauen mit der Geschäftsidee Sex ihre Karrierewege. In «She’s Lost Control» von Anja Marquardt verliert eine Sexualtherapeutin die Distanz zu ihrem Patienten. Ihre Behandlung wird zu einer verunglückten Liebesgeschichte.

«Traumland» zeigt die Prostitution nicht als Problem, sondern als Symptom. Volpe beleuchtet die Seite der Sexworkerin, geht aber ebenso dem Hintergrund des Sexarbeitgebers – des Freiers – nach. Auch schaut sie hinter die Kulisse der Sozialarbeiterin, die letztlich beide betreut. «Rolfs Gang zu einer Prostituierten ist die Verneinung der Komplexität», sagt die 43-jährige Filmemacherin. «Freier versuchen, dieser Grösse auszuweichen, wenn sie Sex kaufen. Der Freier bezahlt, die Frau muss machen, was er will.»

Volpe hat als Studentin beim Sex-Telefon gearbeitet und dort einiges erfahren, auch über die Ehesituation der Kunden. Deshalb richtet sie in «Traumland» den Blick erst einmal auf scheinbar unzusammenhängende Familiengeschichten: Judith, die Sozialarbeiterin, betreut die Prostituierten auf dem Strassenstrich. Lena, die hochschwangere Familienmutter, die ihrem Kind noch rasch ein Geschenk kaufen will, findet eine Gleitcrèmepackung im Wagen ihres Mannes. Die verwitwete Maria hat für Heiligabend ihren spanischen Bekannten zum Essen eingeladen, der sie für ihre schöne Spitzenunterwäsche als Hure beschimpft. Und dann ist da die junge Nachbarin – Mia.

Mia, eine bulgarische Prostituierte, ist zu Beginn nur am Rande des Bildes sichtbar – als Kundin der Sozialarbeiterin Judith. Mia träumt, wie alle Frauen, die ihren Körper verkaufen, von Freiheit in Zürich. Mia wird zum Knotenpunkt im Netz, das die vier Familiengeschichten verbindet. Doch entscheidend bei diesem Netz sind nicht die Verbindungen, sondern die Grösse der Löcher, durch die sie fällt.

Volpe verzichtet auf den männlichen Voyeurismus

Volpe beschränkt sich bei der Geschichte von Mia nicht auf das, wozu sich das Medium Film – als vornehmlich männlich-voyeuristische Kunst – vorzüglich eignen würde: zur Darstellung begehrenswerter Körper in der Prostitution. Volpe hat sich in jahrelangen Recherchen ein Bild der Prostitution verschafft, wie sie in den Ehe-Schlafzimmern entsteht.

«Mir ist aufgefallen», sagt sie, «dass Freier sich sehr einfache Dinge wünschten. Sie reden aber offenbar nicht mit ihren Frauen darüber. Da das Gespräch völlig anonym war – ich hörte ja nur die Stimme –, haben die Kunden viel von sich erzählt. Es waren oft Männer, in deren Ehe vieles nicht ausgesprochen wird.»

Als Mia in Rolfs Wohnung auftaucht, dringt die Prostitution endgültig ins eigene Schlafzimmer zurück. Plötzlich sitzt Mia neben Rolfs Tochter, die wider Erwarten doch am Weihnachtstisch erschienen ist. Doch die Tochter spricht nicht «darüber». Sie fragt nur «Ist das Huhn bio?» – «Was?» – «Bio!» Dann isst sie Riz Casimir. Da sitzen dann um Mia drei weitere Einsame: der Grossvater, der Vater und die Tochter am Weihnachtstisch. André Jung zückt alle Register der Verlassenheit. Er stattet den verstossenen Gatten so eindrücklich mit Liebenswürdigkeit aus, dass wir fast vergessen, wie verloren er auf einen Bus warten kann, wie akkurat er Unterhosen falten mag, als er die Nutte brutal in die Nacht hinausschickt.

Luna Mijovcis Mia geht den Weg zu Ende. Geschäftstüchtig wie sie ist, fand sie bisher immer einen Ausweg. Als sie zum Schluss ins Zentrum der Geschichte rückt, ist das schief hängende Liebesleben ihrer Umgebung längst implodiert: Die Sozialarbeiterin kommt mit ihrem Bedürfnis nach Nähe nicht zurecht (Bettina Stucki lässt hinter der robusten Fassade der Sozialarbeiterin Judith ein trauriges, ungestreicheltes Herz aufblitzen – filmpreiswürdig). Ihr Freund (Stefan Kurt) verarmt in der unzärtlichen Quarantäne.

Volpe weist sich mit «Taumland» nicht nur als gerissene Episodenerfinderin aus. Sie kann auch Bilder sprechen lassen: Was sie uns von Zürich (und Berlin) zeigt, ist ein Grossstadtblick auf Randzonen und Dreckecken. Sie ortet die Prostitution als ein Symp­tom, das neben anderen steht: Die spanische Witwe schmeisst Mias Wäsche in den Abfall, klaut Mias Geld und wirft es in den Opferstock der ­katholischen Kirche. Die schwangere Lena, die den weihnachtsbaumschmückenden Gatten wegen der Gleitcrème im Auto zur Rede stellen will, tröstet stattdessen ihr Töchterchen, das gerne ins Zimmer käme: «Nei, s Chrischtchindli isch nanig fertig mitem Baum.» Aber «darüber» zu reden schafft niemand von diesen Einsamen.

Geld, Macht, Liebe

Volpe zieht, wie die anderen Frauen in ihren Filmen, ähnliche Schlüsse: Prostitution fängt dort an, wo Sexualität aufhört, zur Liebe zu gehören: im Machtgehabe, in der Fantasie, im Ehebett.

«Traumland» unterläuft geschickt unsere Vorurteile, bis auf eines: Selbst zwischen der freiwilligsten Sexworkerin und dem allerherzliebsten Freier steht immer das Geld. Doch Geld ist nicht lieb. Auch wenn es gerne das ­liebe Geld genannt wird. Es ersetzt auch nie Liebe. Es drückt nur Machtverhältnisse aus – zwischen Männern und Frauen.

Für diese stark umgesetzte Verdeutlichung ist «Traumland» gleich dreifach für den Schweizer Filmpreis nominiert.
_
Der Spielfilm «Traumland» läuft u.a. im kult.kino Camera in Basel.
Das ausführliche Interview mit Regisseurin Petra Volpe finden Sie hier.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 21.02.14

Nächster Artikel