Anzügliche Sprüche, traditionelle Rollenvorstellungen und damit einhergehende Erwartungen: Sexismus steckt in unserem System, in all unseren Gewohnheiten. Doch was genau ist sexistisch? Unsere Autorin hat 80 Personen befragt – und interessante Antworten erhalten.
In diesem Artikel geht es nicht um Sex. Oder zumindest fast nicht. Es geht um Sexismus. Hätte ich «Sexismus» in den Titel genommen, würden wohl weit weniger Menschen den Beitrag lesen oder womöglich lediglich diejenigen, die sich nicht vom Begriff abschrecken lassen. Sex ist – so scheint es zumindest – sexier als Sexismus. Aber deshalb erst recht: weiterlesen!
Was ist denn nun Sexismus? Sexismus umfasst sämtliche Äusserungen, Taten, Strategien und Haltungen, die zur Abwertung, Marginalisierung, Ausbeutung und Unterdrückung einer Person oder Gruppe aufgrund ihres Geschlechts führen. Dazu gehören anzügliche Sprüche, traditionelle Rollenvorstellungen und damit einhergehende Erwartungen – auch was die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität betrifft. Sexismus tritt als Phänomen weltweit und in allen historischen Epochen auf.
Shoshana Roberts: «10 Hours of Walking in NYC as a Woman» (Youtube 2014) – die Aktion wird aus feministischen Reihen wiederum kritisiert.
Das perfide an sexistischen Verhaltensweisen ist, dass sie alle Lebensbereiche durchdringen und daher nicht immer wahr- oder ernst genommen werden. Sexistische Muster werden (unbewusst) verinnerlicht, weitergegeben und transformiert.
So lernen wir etwa, dass Frauen Männer zu begehren haben und umgekehrt; wir lernen, an welchen Spielzeugen wir Spass haben sollen; wir lernen, ob wir eher sprachlich oder mathematisch «begabt» sind; wir lernen, ob wir Röcke tragen sollen oder nicht dürfen; wir lernen, an welchen Körperteilen Haare sein sollen und an welchen nicht, wir lernen, welche geschlechtliche Identität wir haben sollen.
Wo fängt Sexismus an?
Die Frage, wo denn nun Sexismus genau anfange, stellen sich, so scheint es zumindest, vor allem Männer: «Man(n) darf ja nichts mehr sagen, weil sonst die Gefahr besteht, sexistisch zu handeln.» Diese Verunsicherung heterosexueller Männer löst bei mir mittlerweile oftmals nur noch Irritation aus: Flirten ist eine Frage des Einvernehmens, von Lust und Begehren. Belästigung und Übergriffe sind ein Teil von Gewalt. Die Grenze ist dann überschritten, wenn keine Einvernehmlichkeit gegeben ist.
Und wer bestimmt die Grenze? Ich. Wir. Und weil dieses «Wir» vielfältig ist, tat ich für die Recherche dieses Artikels das, was zu tun ist: Ich fragte nach. Ich schrieb rund 80 Personen, die ich persönlich kenne, eine E-Mail mit der Bitte, mir mitzuteilen, was sie unter Sexismus verstehen, wie sie Sexismus im Alltag erleben und was für sie Anti-Sexismus bedeutet.
Lesen Sie mehr über Geschlechteridentität und Gleichberechtigung in unserem Dossier.
In kürzester Zeit erhielt ich eine Flut von Antworten. Sie waren so divers wie die Lebensrealitäten der unterschiedlichen Frauen auch. Denn gleich vorweg: Auf meine Fragen haben lediglich Frauen geantwortet. Wissenschaftlerinnen, Professorinnen, Studentinnen, Politikerinnen, Kampagnenleiterinnen und Gewerkschafterinnen. Juristinnen, Lehrerinnen, Gleichstellungsfrauen. Frauen, die im Musik- und Kulturbereich, in der Sozialpädagogik, der Sexarbeit, in der Flüchtlingsarbeit und in der Bildung tätig sind. Feministische Aktivistinnen und Frauen, die sich nie als Feministinnen bezeichnen würden.
Die Legitimität der eigenen Erfahrung
Viele wiesen explizit und mehrfach darauf hin, dass sie anonymisiert werden wollen, handle es sich doch um ein «heisses Eisen». Das zeigt, wie schwierig es ist, die Unterdrückung beim Namen zu nennen und die unbestimmten Konsequenzen einzuschätzen.
Schliesslich endeten viele der Ausführungen mit der Infragestellung der eigenen Erfahrung: «Ich weiss nicht, ob das was taugt.» Mehrfach wurden die eigenen Ausführungen als «Gstürm» oder «Geschwurbel» bezeichnet, oder es wurde konstatiert: «Jetzt bin ich, glaube ich, abgeschweift.»
Doch dies war bei keiner Geschichte der Fall; sie alle verweisen auf das, was ich sichtbar machen wollte: den Zusammenhang von persönlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Struktur. Die Erlebnisse sind persönlich und abhängig von der Lebenssituation – deren Grundlage aber ist eine gesellschaftliche Machtstruktur.
Es ist sexistisch, wenn…
… ich als 80 Prozent arbeitende Frau als «Rabenmutter» taxiert werde, während mein Mann mit derselben Anstellungszahl als «Superpapi» gilt.
… ich im Gegensatz zu meinem «laut polternden» Vorgänger als «graue Maus» bezeichnet werde, deren Kompetenz angezweifelt wird.
… ich gebeten werde, bei der Arbeit doch «bitte mal wieder das Deux-Pièces anzuziehen».
… Diskussionen über «Speck auf den Hüften» von medial präsenten (schlanken) Frauen geführt werden.
… ich als Lehrerin höre, dass es «nun mal so sei», dass Lehrern mehr Respekt gezollt wird.
… ich als ausgebildete Landwirtin auf der Suche nach einem eigenen Hof gefragt werde, ob ich denn nun einen Bauern zum Heiraten suche.
… ich von meinen Berufskollegen auf meine Fachkompetenz getestet werde.
… ich als Historikerin von Studenten gefragt werde, was mich legitimiert, eine Dissertation zu schreiben.
… Bilder von sich küssenden (angezogenen) gleichgeschlechtlichen Paaren in Trams nicht erlaubt werden. Es ist auch sexistisch, dass in denselben Trams übergrosse Bikiniwerbung toleriert wird.
… ein Mann seine Familie umbringt und dies als «Familiendrama» euphemisiert wird.
… das Humorfestival Arosa Markus Hürlimann und Jolanda Spiess-Hegglin für den «Schneemann des Jahres» nominiert. Die «Auszeichnung» erhalten Personen, die «realsatirische Schlagzeilen und Heiterkeit» verbreiteten. Es ist auch sexistisch, wenn eine mögliche Vergewaltigung, als «Zuger Sex-Affäre» banalisiert wird. (gerade aktuell durch eine Petition, die sich gegen sexistische Berichterstattung richtet, red)
… von Frauen erwartet wird, dass sie Kinder kriegen. Es ist ebenso sexistisch, wenn mir andere Frauen sagen: «Du weisst gar nicht, was du verpasst, aber die biologische Uhr wird dann schon noch ticken.»
… Frauen vergewaltigt werden oder Angst vor sexualisierten Übergriffen haben.
… mir Männer nachpfeifen und mich anfassen, wenn und wo ich nicht möchte.
… suggeriert wird, ich hätte einen Partner. Egal ob ich mich als Hetera oder Lesbe identifiziere.
… Männer sich im Kampf gegen Sexismus nicht mit mir solidarisieren. Es ist auch sexistisch, wenn behauptet wird, Trans*menschen und Personen jenseits der Geschlechterbinarität würden keinen Sexismus erleben.
… ich höre, ich sähe nicht aus wie eine Lesbe. Es ist auch sexistisch, wenn ich auf der Strasse geschlagen werde, weil ich eine Frau küsse.
… ich als Wissenschaftlerin auf einem Podium sitze und meine männlichen Kollegen mit Forschungsschwerpunkten und akademischem Titel angesprochen werden. Bei mir heisst es zuletzt: «Und das ist Frau Schmitter.»
Obwohl mir Erfahrungen zugetragen wurden, die Frauen in unterschiedlichen Lebenssituationen mit unterschiedlichen Identitäten und in unterschiedlichem Alter machen, sind es auch meine Erfahrungen. Es sind die von vielen, auch wenn sie nicht immer sichtbar sind – und dies unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen. Denn Sexismus ist ein strukturelles Problem, nicht (nur) ein persönliches.
Vom «Ich» zum «Wir» – oder: Das Problem mit der Autonomie
Viele Frauen, so berichtete jüngst die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», wachsen im Glauben auf, «dass alle Menschen dieselben Möglichkeiten, Rechte und Pflichten haben. Alles nur eine Frage des geschickten Verhandelns». Ihnen wird das Bild vermittelt, dass sie «studieren können, zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung wählen oder gar nicht arbeiten, Kinder kriegen oder nicht, sie selbst aufziehen oder ausser Haus betreuen lassen. Sie können die Scheidung einreichen und eine Frau heiraten (= registrieren).» Frauen, so ist das vorherrschende Bild, sind «die Autorinnen ihrer eigenen Biografie». Wer es anders erlebt, hat es einfach nicht genügend versucht – ist letztlich gescheitert.
Diese Einschätzung teile ich nicht. Es sind gesellschaftliche Machtstrukturen, die Frauen einschränken. Die Überzeugung, absolute Wahlfreiheit zu geniessen, gehört zum (Selbst-)Bild der modernen Frau und wird auch von ihr erwartet: Bildung ja, Karriere ja, aber auch schön aussehen und das alles locker – und vor allem ohne Quoten – schaffen.
Neoliberale Individualisierungs- und Kommerzialisierungsdiskurse lassen wenig Raum für Machtkritik und Solidarität. Anrufungen wie «du brauchst dich nur zu wehren» und «du kannst, wenn du nur willst» sind neoliberale Schlagworte, die strukturelle Ungleichheiten in selbstverschuldete umwandeln.
Doch machtfreie Räume existieren nicht: Menschen sind in der Gesellschaft eingebettet und daher in vielfältige Machtkonstellationen eingebunden. Deshalb gilt es, weiterhin strukturell zu denken. Wir sind keine autonom handelnden Subjekte, die «können, wenn sie nur wollen»: Geringe Frauenanteile in Teilen der Berufswelt sind nämlich keine individuellen Wahlentscheidungen von Frauen, sondern Effekte gesellschaftlicher Macht.
Last – but no way least – überlasse ich die letzten Worte und Analysen der Slampoetin Bente Varlemann: Treffender, kluger, verständlicher und authentischer kenne ich wenig Analysen darüber, worum es geht – und darüber, was «wir» haben.
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Die Verfasserin Leena Schmitter ist Historikerin und Stadträtin für das Grünen Bündnis in Bern.
Der TagesWoche-Anlass zum Thema: Mittwoch, 11. Februar, 19 Uhr. Mehr Infos sind nur einen Klick aufs Bild entfernt.