Sie kommen, um Verpasstes zu lernen

Im Lernzentrum der Volkshochschule können auch diejenigen die Freude am Lernen wieder finden, die sie in der Schulzeit verloren haben.

Probieren geht über studieren: Kursleiterin Maxa Goop (links) hilft, wenn gewünscht. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Im Lernzentrum der Volkshochschule können auch diejenigen die Freude am Lernen wieder finden, die sie in der Schulzeit verloren haben.

Es ist Montag – je nachdem, was man noch zu tun hat, später Nachmittag oder früher Abend. Im Restaurant «eo ipso» im Gundeldinger Feld sitzen manche beim Feierabendbier, andere vor dem Laptop. Draussen kurven Kinder auf Drei- und Zweirädern durch das Areal, Mütter beginnen, einige von ihnen einzusammeln. Für sie ist nun ebenfalls Feierabend, wenn auch nicht im eigentlichen Sinn.

In der gleichen Halle wie das Restaurant, etwas weiter hinten, befindet sich die Bibliothek Gundeldingen. Eine Tafel weist vor dem Eingang auf das Lernzentrum der Volkshochschule hin. Dass Erwachsene dort beim Lernen – was immer sie lernen wollen – unterstützt würden, kostenlos und immer montags.

Es ist kurz vor 18 Uhr, seit einer knappen halben Stunde ist das Lernzentrum geöffnet. Das heisst, in der hintersten Ecke der Bibliothek, diskret abgetrennt durch die letzte Reihe der Bücherregale, sitzen mehrere Personen an irgendwelchen Aufgaben. Jede für sich. Konzentriert.

Ein junger Mann ist über ein Schreibheft gebeugt, neben sich ein Buch über deutsche Grammatik. Desgleichen eine ältere Frau, aber mit einem anderen Buch. Sie schreibt in unsicherer Schrift Sätze daraus ab. Einige sitzen vor Computern, vor handlichen Laptops die einen, vor fest installierten Geräten andere. Es wird wenig gesprochen, und wenn, dann leise; nur als Gemurmel zu hören.

Deutsch blieb auf der Strecke

Drei Frauen und ein Mann – offensichtlich die Kursleitenden – gehen von einem zur anderen, schauen auf die Arbeit der Lernenden, fragen obs geht, setzen sich hin, wenn Hilfe gebraucht wird. Eine der älteren Frauen am Computer bittet darum. Sie plant einen Ausflug in die Innerschweiz und möchte wissen, wie sie dahin kommt. Die Kursleiterin zeigt ihr Google-Maps und wie sie sich die Karte ausdrucken kann.

Die Frau ist fasziniert und gibt weitere Orte ein. Ihre Tischnachbarin ist schon ziemlich verzweifelt, weil sie auf einer Website mit einem Wettbewerb die Gewinner nachsehen möchte und sie einfach nicht finden kann. «Ich suche und suche …» Die Kursleiterin kann sie beruhigen, sie habe nichts falsch gemacht, die Gewinner stünden nur noch nicht fest.

Am nächsten Tisch wartet der junge Mann darauf, dass jemand seinen nun fertig geschriebenen Text korrigiert. Er möchte endlich sein Deutsch verbessern, sagt er. Als 12-Jähriger sei er aus Italien in die Schweiz gekommen, er besuchte ein Jahr lang die spezielle Deutschklasse für ausländische Kinder, das sei gut gewesen. «Aber dann, in der Normalklasse, wo ich mit all den anderen den gleichen Stoff lernen musste, blieb mein Deutsch auf der Strecke.» Jetzt, mit 24, will er das Verpasste nachholen. «Hier bin ich allein, kann nach meinem eigenen Tempo lernen.» In den üblichen Kursen sei das anders, «da wäre es wieder dasselbe wie früher in der Schule».

Eine Frau lässt sich zeigen, wo sie auf ihrem Laptop ein grosses W finden kann, sie übt mit «schönes Wetter». «Gleichzeitig mit dem Buchstaben diese Taste drücken», sagt der Kursleiter, «ups, das hat nicht geklappt, komm, wir versuchen es nochmals. Draufbleiben. Ja, bravo, jetzt ist der Buchstabe gross!» Die Frau lacht. Sie stamme aus Kap Verde und lebe seit 35 Jahren in der Schweiz, erzählt sie. Sie spricht nur gebrochen Deutsch.

Grundbildung und Basiswissen

Sie habe all die Jahre in der Spitalküche gearbeitet, «zusammen mit anderen Ausländern, man spricht spanisch und italienisch miteinander, aber kaum Deutsch». Ihr Sohn habe ihr diesen Laptop geschenkt, aber selber keine Zeit, ihr zu zeigen, wie er funktioniert. Deshalb komme sie hierher, um das zu lernen und gleichzeitig ihr Deutsch zu verbessern. «Ich probiere es», sagt sie, «ich möchte gerne einmal etwas für mich machen.» Hier fühle sie sich wohl, habe keine Angst und «die Lehrer haben viel Geduld mit uns».

Maxa Goop ist eine davon, in ihrem sonstigen Berufsalltag als OS-Lehrerin tätig und seit dem Start dieser Lernkurse dabei. «Hier geht es meist um Grundbildung, um Basiswissen», sagt sie, «oft für Leute, die im üblichen Schulbetrieb zu kurz gekommen sind.» Menschen auch, die nicht an einem normalen Kursangebot teilnehmen würden. «Weil sie entweder das Geld nicht dafür haben oder zu scheu sind oder beides.» Aber auch, weil die meisten Kursangebote einem festgelegten Programm folgen und Theorie lehren, die es für die Anwendung nicht braucht. Beispielsweise in Computerkursen.

«Viele möchten jedoch nur den Einstieg in den Computer erlernen», sagt Goop, «ohne englische Fachbegriffe und genau in dem Tempo, das sie brauchen.» Manche kämen mit ihrem Handy, weil sie es nicht bedienen können. Oder eine junge Mutter mit ihrem Fotoapparat: Sie fotografiere seit zwei Jahren ihr Kind und wisse nicht, wie diese Fotos aus der Kamera kommen. Eine junge Seconda braucht Hilfe beim Bewerbungsschreiben, ein Student mit Prüfungsangst Lerntipps.

Schottland machts vor

Das Lernzentrum steht allen ab 16 Jahren offen. So auch dem Jugendlichen, der ins Gymnasium geht, in Mathe aber ein Problem hat, wie er sagt. Auch er kommt regelmässig, «das ist meine Nachilfe, meine Mutter hätte nicht das Geld dafür».
Goops Kollege und Vorgesetzter, Nicolas Füzesi, ist der Leiter des Lernzentrums und auch Leiter für Sprachen an der Volkshochschule beider Basel, das Lernzentrum ist sein Produkt. Gesehen habe er das Modell der Learning Centers in Schottland, sagt er, «dort hat man das grosse Bedürfnis an Grundbildungsangeboten schon lange erkannt und investiert dafür viel Geld».

Die Idee, etwas Ähnliches hier auf die Beine zu stellen, liess ihn nicht mehr los. Zumal die klassischen Kursangebote für Menschen, die trotz Absolvieren der obligatorischen Schulzeit kaum schreiben und lesen können, nicht richtig funktionieren. Schätzungsweise über eine halbe Million Menschen in der Schweiz sind von diesem Phänomen, dem sogenannten Illettrismus betroffen. «Das Problem ist schon länger erkannt, denn Lese- und Schreibkursangebote gibt es bereits seit über 20 Jahren, aber es sind noch andere Mängel bei den Grundkompetenzen zu beheben», so Füzesi.

Zeichen stehen auf Erfolg

Gemäss einer Studie des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2006 haben 400 000 Erwachsene in der Schweiz Mühe, einfachste Rechenaufgaben zu lösen. Und auch was die modernen Kommunikationstechnologien betrifft, sind es nicht nur die Alten, die damit nicht klarkommen. Es gibt also nach wie vor viel zu tun, respektive zu lernen.

Aber: Seit etwa sechs Jahren merke man, sagt Füzesi, dass die Teilnehmerzahlen bei den konventionellen Kursen rückläufig seien. «Lernzentren wie dieses sind eine Antwort darauf.» Angefangen habe man vor zwei Jahren mit drei bis vier Teilnehmern, inzwischen seien es im Durchschnitt zehn. «Das ist ein Erfolg.»

Eine ältere Frau kommt, um sich zu verabschieden. Sie habe nun also ein Mail geschrieben, sagt sie. «Toll», meint Füzesi, «hast du es schon abgeschickt?» «Nein, das mache ich nächste Woche.»

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12

Nächster Artikel