Managed Care, alles unklar?

Im Juni stimmt die Schweiz über eine Vorlage ab, die jeden betrifft – deren Auswirkung aber noch offen ist.

Beim Zentrum für Telemedizin Medgate in Basel werden Patienten aus der ganzen Schweiz behandelt. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Im Juni stimmt die Schweiz über eine Vorlage ab, die jeden betrifft – deren Auswirkung aber noch offen ist.

Schmerzen an den Hoden treiben ihn ans Telefon. Der Berner ruft beim Zentrum für Telemedizin, Medgate, in Basel an. Er berichtet einer medizinischen Fachfrau von seinem Leiden, sie schreibt alles in den Computer. Wenig später ruft ihn ein Arzt zurück. «Sind die Hoden geschwollen? Hatten Sie eine Infektion? Fuhren Sie lange am Stück Velo? Auswärtiger Beischlaf?» Der Telefonarzt ergänzt die Computerinformationen seiner Kollegin.

Er kommt zum Schluss: Die Hoden müssen abgetastet werden. Der Arzt verschreibt dem Patienten zwei Termine beim Hausarzt, denn Abtasten – das geht nicht am Telefon. Sonst aber kann mehr als der Hälfte der Anrufenden per Telefon geholfen werden. Prellungen, Verdauungsprobleme, Ausschläge sind die Hauptleiden der Patienten. Bei Letzterem mailt der Betroffene dem Telefonarzt ein Foto des Ausschlags.

50’000 Behandlungen im Monat

Der Baselbieter Arzt Andy Fischer gründete «Medgate» im Jahr 1999. Als Rega-Arzt wusste er: Viele Probleme lassen sich telefonisch lösen. In Ärztekreisen umstritten und von Patienten skeptisch betrachtet, wurde Medgate dennoch zum Erfolg: Eine Studie der Universität Lausanne ergab vor einigen Jahren, dass die Gesundheitskosten mit der Telemedizin um fünf Prozent gesenkt werden konnten.

Inzwischen dürfte es mehr sein, Medgate wächst und wächst: Waren es 2003 noch 10 000 Telefonbehandlungen im Monat, sind es heute 50 000. Aus Platzmangel musste der Firmensitz im Gellert durch Büros am Aeschenplatz ergänzt werden, im Sommer wird eine Zweitstelle in Solothurn eröffnet.

Wer nicht mitmacht, zahlt mehr

Die Aussicht auf eine tiefere Prämie bringt immer mehr Versicherte dazu, sich bei ihrer Kasse zu einem bestimmten medizinischen Erstkontakt zu verpflichten. Beim HMO- wie auch beim Hausarzt-Modell verkörpert der Hausarzt den Erstkontakt, bei der Telemedizin ist ein Arzt am Telefon «Gatekeeper». Das Prinzip: Eine bestimmte Person untersucht den Patienten und vermittelt ihn – wenn nötig – weiter. Doppelspurigkeiten und unnötige Behandlungen sollen vermieden werden.

Während die Telemedizin in anderen Ländern wegen Versorgungsengpässen wächst, steht in der Schweiz der Kostenfaktor im Vordergrund. Um diesen geht es auch bei der Volksabstimmung zur Managed-Care-Vorlage: Der Bundesrat will gesetzlich verankern, dass Versicherte, die sich keinem «integrierten Versorgungsnetz» anschlies­sen, künftig einen höheren Selbstbehalt zahlen müssen. Noch zahlen alle zehn Prozent Selbstbehalt und – egal, wie jemand versichert ist – die Höhen der Franchisen sind dieselben.

Linke sprechen von einer drohenden Zweiklassenmedizin, indem sie sagen: Bei Managed Care können sich nur Reiche weiterhin freie Arztwahl leisten. Die Mehrheit des Parlaments und der Bundesrat aber sagen: Die Qualität steigt mit solchen Versorgungsnetzen, die Kosten sinken.

Nur HMO ist gesetzeskonform

Wahrscheinlich haben alle recht. Was aber niemand thematisiert, jetzt, da der Abstimmungskampf lanciert ist: Was steht eigentlich in diesem Gesetz? Im entsprechenden neuen Artikel des Krankenversicherungsgesetzes heisst es: «Eine Gruppe von Leistungserbringern, die sich zum Zweck der Koordination der medizinischen Versorgung zusammenschliessen, bildet ein integriertes Versorgungsnetz. Das Versorgungsnetz muss den Zugang zu allen Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sicherstellen.»

Solche Netze gibt es in der Schweiz seit 20 Jahren. Jedoch nur das klassische HMO-Modell entspricht ganz dieser Gesetzespassage, da nur dieses Modell sämtliche Dienstleister wie Hausärzte, Spezialisten, Physio­therapeuten in einem Netz zusammenhält. Erst etwa 17 Prozent der Schweizer sind heute so versichert, wie es das neue Gesetz vorsieht. Rund 40 Prozent hingegen sind in «Gatekeeper»-Modellen wie dem Hausarzt-Modell versichert.

Dort darf der Patient selber wählen, welchen Spezialisten er aufsucht, nachdem ihm der Hausarzt einen solchen Besuch verschrieben hat. Ähnliche Freiheiten haben Telemedizin-Versicherte. Die Modelle entsprechen also nicht dem, was das Gesetz vorsieht.

Netzwerke müssen sich anpassen

Noch ist offen, welche der bestehenden Netzwerke bei einer Annahme der Vorlage berücksichtigt würden. Das wiederum bedeutet: Es ist nicht auszuschliessen, dass nur eine Art klassisches HMO-Modell gilt – und alle anderen 83 Prozent der Versicherten mit 15 Prozent Selbstbehalt und höhreren Franchisen «bestraft» werden, egal, ob sie in einem «Gatekeeper»-Modell oder einer freien Variante versichert sind. Anne Durrer vom Krankenkassenverband Santésuisse bestätigt, dass noch vieles unklar und vom Bundesrat auszuarbeiten ist, hält es aber für wahrscheinlich, dass «sich bestehende Netzwerke anpassen, damit sie alle gesetzlichen Bestimmungen erfüllen».

Medgate ist bereits dabei, ein Versorgungsnetz aufzubauen, sagt Kommunikationschef Cédric Berset. Ziel sei es, auf allen Gebieten und in allen Re­gionen Partner zur Verfügung zu haben und in einem Netz zusammenarbeiten zu lassen. Gäbe es heute schon solche Gruppen, hätte der Patient mit den Hodenschmerzen vom Telefonarzt nicht nur die Erlaubnis für zwei Hausarztbesuche erhalten, sondern auch Namen von Ärzten in seiner Umgebung.

Ein Netzwerk kann vom Patienten als Dienstleistung betrachtet werden, weil er sich nicht selber um einen Arzt bemühen muss. Die Teilnahme an einem solchen Modell kann umgekehrt natürlich auch als Einschränkung empfunden werden.
Da wären wir wieder bei der Angst der Managed-Care-Gegner vor einer Zweiklassenmedizin und der Hoffnung der Befürworter auf mehr Qualität. Wobei auch das Qualitätsargument umstritten ist: Kritiker fürchten, manche nötigen Behandlungen würden nicht mehr durchgeführt, wenn die Budgetverantwortung bei den Ärzten liegt. Heute gibt es eher zu viele Behandlungen. Und dass gespart werden muss, ist allen klar. Bloss über das Wie dürfte noch viel gestritten werden.

Diskutieren Sie mit in der Wochendebatte zum Thema: Braucht die Schweiz das Managed-Care-Modell?

 

Eine Podiumsdiskussion soll Aufschluss über die Vorlage geben:

Werden Patienten verwaltet, sollte das Volk am 17. Juni die Managed-Care-Vorlage annehmen? Würde die Zweiklassenmedizin gesetzlich verankert? Oder stimmt, was die Befürworter sagen – und die Qualität im Gesundheitswesen würde steigen, die Kosten würden sinken? Der Verein «Gesundheit für alle» lädt die Öffentlichkeit zu einer Podiumsdiskussion ins Unternehmen Mitte ein. Mit Nationalrat Sebastian Frehner (SVP), Nationalrätin Silvia Schenker (SP), Hausarzt Daniel Gelzer und EVP/DSP-Grossrat und Präsident der Medizinischen Gesellschaft Basel, Felix Eymann, diskutieren Gegner und Befürworter. TagesWoche-Redaktorin Martina Rutschmann leitet das Gespräch.

Mittwoch, 18. April, 19.30 Uhr, Weinbar (1. Stock) Unternehmen Mitte, Gerbergasse 30, Basel.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12

Nächster Artikel