Schon bald installiert Apple auf Millionen von iPhones eine neue App, die uns täglich die besten, spannendsten und einzigartigsten News zeigen soll. Auch andere Grosse aus dem Silicon Valley wollen unser Tor zu den besten Nachrichten, Analysen und Meinungen werden. Doch Start-ups tun das schon eine Weile und besser. Vor allem eines: Nuzzel.
Die Übermenge an Inhalten, auf die wir im Internet zu jeder Zeit Zugriff haben, ist ein längst erkanntes und dennoch ungelöstes Problem. Noch nie gab es theoretisch so viel Interessantes zu entdecken, doch noch nie war es in der Praxis so schwierig. John Abrams hat das Problem miterschaffen und will jetzt helfen, es zu lösen.
John Abrams, falls Sie von ihm noch nie gehört haben, ist vor allem fürs Verlieren bekannt. Er war der Gründer von «Friendster», dem ersten sozialen Netzwerk, das eine Sensation war, bis es zu einem Debakel wurde. «Friendster» wurde zum Friedhof für Online-Profile, zur Pointe in Sitcoms und zum Futter für höhnische Schlagzeilen.
Ein sensationeller Fall, der dennoch den Weg für eine neue Industrie bereitete: Soziale Netzwerke. Wie kaum ein anderer Trend im Internet sind diese dafür verantwortlich, die News-Industrie für immer verändert zu haben. Für viele sind sie geworden, was früher die Frontseiten der Zeitungen waren.
Von allen möglichen Nachrichten zeigen sie uns die, auf die am meisten geklickt wird, oder einfach die, von denen unsere Freunde glauben, dass sie uns interessieren. Doch sie scheinen das grösste Problem mit News im Internet nicht lösen zu können: Qualität ist schwer zu finden. Nun scheint die Zeit von Abrams gekommen zu sein.
Keine Babyfotos und doch News-Empfehlungen von Freunden sehen – Nuzzel machts möglich.
Sein Dienst Nuzzel legt einen weiteren Filter über den Filter, den unsere Freunde darstellen. Aus den ganzen Posts, die in unseren Netzwerken geteilt werden, erstellt Nuzzel eine ständig aktuelle Liste aus den geteilten News-Inhalten. Facebook ohne Babyfotos, Twitter ohne Geschwätz. Die Liste, für jeden Nutzer personalisiert, kann auf einer Website, in E-Mail-Benachrichtigungen und in einer App angesehen werden. Mit diesem simplen Konzept ist Nuzzel zu einem der besten News-Kuratoren des Internets geworden.
Ein alter Wunsch mit neuen und vor allem grossen Playern
Der Wunsch nach so einem Dienst ist alt, viele haben es versucht, die meisten sind damit gescheitert. Auch die Diskussion darüber ist alt. Neu ist jedoch, dass die Giganten jetzt mitspielen: Apple installiert mit der neuesten Version des mobilen Betriebssystems eine neue App auf Millionen von iPhones mit dem Zweck, uns die besten News zu zeigen, egal woher sie kommen. In «Apple News» helfen die hauseigenen Redaktoren für uns «die besten Neuigkeiten in den nationalen, globalen und lokalen News zu finden», wie es in einem Job-Beschrieb heisst.
Eine globale Zeitung ohne eigene Reporter, dafür mit Redaktoren, auch Kuratoren genannt. Auch Twitter und Instagram haben jüngst eigene derartige Initiativen angekündigt. Eigene Redaktoren sortieren dort die Inhalte auf den Netzwerken, um Nachrichten-Streams zu Grossereignissen zu erstellen. Bei der Videomessaging-App Snapchat arbeiten bereits Dutzende Redaktoren, um die Fülle von Videos in sinnvolle Streams zu verwandeln. Facebook und Google lassen derweil Algorithmen sortieren. Die Tech-Firmen nehmen sich hier eines der grössten Probleme für interessierte News-Konsumenten an.
Traditionelle Medien haben eine Chance verpasst
Traditionelle Medien haben sich mit ihrer Nachlässigkeit, das Problem in Angriff zu nehmen, ein neues Monster als Konkurrenz gezüchtet. Früher trafen sie die letzte Entscheidung darüber, was auf die Frontseite gehievt und was im dritten Bund versteckt wurde. Ihre Erfahrung darin hätten sie sich zunutze machen und so zu Plattformen für Qualitätsjournalismus werden können. Jüngst kamen zwei Beispiele dazu, in denen traditionelle Medienhäuser genau das tun: «Buzzfeed» und die «New York Times» haben in zwei neuen Apps Content Curation zum Kern der Strategie gemacht. «NYT Now» und «Buzzfeed News» – beide für iPhone erhältlich – liefern eine ständige Übersicht an News aus eigenen und anderen Quellen – Tweets, Videos oder Artikel.
Traditionelle Medien haben sich mit ihrer Nachlässigkeit, das Problem in Angriff zu nehmen, ein neues Monster als Konkurrenz gezüchtet.
Doch im deutschsprachigen Raum gibt es derzeit nichts Derartiges. Damit hat die alte News-Industrie die Nische geschaffen, in der sich Start-ups wie Nuzzel breit machen. John Abrams macht unsere Freunde zu den Entscheidern über Wichtigkeit und Relevanz – und das funktioniert überraschend gut. Je mehr der Menschen, denen Sie auf Twitter folgen, einen Artikel teilen, desto mehr Gewicht erhält er in der Nuzzel-Liste.
Wer sich ein gutes Netzwerk zusammengestellt hat, wird hier nicht enttäuscht werden. Mit der Funktion «News von Freunden von Freunden» kann der Filter-Bubble entkommen und sehen, was die Netzwerke anderer für wichtig halten. Hier ist beispielsweise meines. Nuzzel bietet so eine tolle Mischung aus Personalisierung und Relevanz. Jedenfalls für solche, die sich ein interessantes Twitter-Netzwerk erstellt haben.
Dieses besteht bei den meisten aus Menschen, mit denen man gewisse Interessen teilt. Das sorgt für einen personalisierten Stream an News. Doch bei grossen Ereignissen, bricht der Personalisierungsfilter weg – denn das ist die Natur von Grossereignissen: Menschen aus allen Bereichen fühlen sich betroffen. Damit entfällt das mühsame Zusammenstellen von Interessengebieten und bevorzugten Quellen, mit denen uns die meisten Kuratoren quälen, bis sie nützlich werden. Eine Übung, die uns übrigens auch «Apple News» nicht erspart.
So hat sich Nuzzel in kurzer Zeit zu einem Liebling von Techies und Journalisten gemacht. Eine Zahl von Nutzern konnte ich den Machern nicht entlocken. Doch den Zahlen auf Google Play zufolge liegt sie zwischen 10’000 und 50’000 (das bezieht sich jedoch nur auf die Android-App; es dürften also einige mehr sein). «Ich öffne Nuzzel noch vor Twitter», schwärmte ein Kolumnist des «Wall Street Journal». Investor Chris Sacca empfahl Twitter, Nuzzel zu kaufen. Damit hätte Abrams dann auch die Möglichkeit, seinen grössten Fehler gutzumachen. Denn bevor er «Friendster» in den Boden wirtschaftete, hatte er ein Millionen-Angebot von Google auf dem Tisch, das er ablehnte. Das passiert ihm wohl nicht noch einmal.
Für Experten: Eine neue und eine alte Empfehlung
Es gibt Kuratoren wie Sand am Meer. Und vor allem für Experten gibt es praktische Produkte. Eines kommt aus der Schweiz. Auf Niuws teilen Experten ihre Leseempfehlungen. Die App setzt dabei nicht auf Journalisten, sondern auf «Experten», Koryphäen aus spezifischen Bereichen. Ihnen kann man folgen und erhält dann täglich Leseempfehlungen von ihnen. Niuws verfolgt dabei das YouTube-Modell: Kuratoren werden nicht bezahlt, erhalten aber Zugang zur Technologie – Algorithmen, die Vorschläge für mögliche Lese-Empfehlungen machen – und Aussicht auf Beteiligung an allfälligen Werbeeinnahmen. Bisher kann man über 40 Kuratoren folgen, weitere Willige stünden Schlange, sagte CEO und Präsident des Start-ups Peter Hogenkamp.
Die Nutzerzahl ist hingegen noch klein: 6000 haben sich im ersten knapp halben Jahr angemeldet. Irgendwann sollen es 100’000 sein, sagt Hogenkamp. Das Vertrauen von Nutzern müssen sich die Kuratoren erst noch verdienen. YouTube hat gezeigt, dass sich mit der Möglichkeit für Selbstvermarktung, gute Inhalte-Lieferer anziehen lassen. Aber auch, dass die Qualität darunter leiden kann, wie verschiedenste Skandale zeigen um Schleichwerbung und Klagen von Videoherstellern, die Geld vor allem abseits von YouTube verdienen.
Bereits bewiesen hat sich einer der Pioniere des Kuratierens: Techmeme ist eine Internetseite, die seit einem knappen Jahrzehnt ständig die wichtigsten News aus der Technologie-Industrie sammelt und auf effizienteste Art und Weise anzeigt. Schlagzeilen werden so umgeschrieben, dass sie die Kerninformation des Artikels zusammenfassen. Verschiedene Quellen zu einer Geschichte werden in Clustern angezeigt, sodass sich der Leser ein Bild verschiedener Ansichten machen kann. Mittlerweile hat Erfinder Gabe Riviera ein kleines Kuratoren-Imperium aufgebaut: Mediagazer zeigt News aus der Medienindustrie, Memeorandum listet Polit-News auf, WeSmirch Klatsch und Tratsch.