Eine Primarschülerin kommt auf dem Heimweg von der Schule an einem Sportplatz vorbei, am Rand steht eine öffentliche Toilette. Ein Unbekannter hält sie an und fragt: «Musst du aufs WC? Komm, ich begleite dich.» Das Mädchen rennt davon und erzählt es der Mutter. Diese hat ihr eingebläut: «Öffentliche Toiletten sind gefährlich, da hat es böse Menschen. Und gehe niemals mit Fremden mit, sondern renn sofort heim und erzähle alles.»
Ein anderes Mädchen übernachtet bei einer Freundin. Spät am Abend kommt deren älterer Bruder zu ihr ins Zimmer und fragt, ob sie wisse, wie man Babys mache. Er zieht sich die Hose runter und fordert sie auf, sich auszuziehen. Sie sagt Nein, er probiert es immer wieder, sie bleibt dabei und behält ihr Pyjama an.
Das Kind ist nicht schuld
Am nächsten Tag sagt sie ihrem Vater: «Zu dieser Familie geh ich nie mehr.» Muss sie auch nicht. Ihr Vater bestärkt sie: «Wenn jemand dich anfassen oder küssen will und du keine Lust hast, sage Nein. Wenn er nicht hört, gib ihm eine Ohrfeige und hole Hilfe.»
Dass wir uns richtig verstehen: Wer sexuell missbraucht wird, ist nie, nie, nie selber schuld! Es kann jedem passieren. Allerdings können sich Kinder besser gegen einen Übergriff wehren, wenn sie gelernt haben Nein zu sagen. Das zeigt die Erfahrung von Kristin Busch von der Opferhilfe beider Basel.
Die Opferhilfe berät Kinder und Jugendliche, die Gewalt erleben, und beteiligt sich am Präventionsparcours «Mein Körper gehört mir». Dieser Parcours ist obligatorisch für alle Drittklässer in Basel-Stadt. Der interaktive Kinderparcours hat zum Ziel, Kinder in ihrem Selbstbewusstsein und in ihren Abwehrstrategien zu stärken.
Der Parcours wird von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern geleitet, doch er beruht auf sieben Kernbotschaften, die auch Eltern ihren Kindern beibringen können:
- Mein Körper gehört mir.
- Ich vertraue meinem Gefühl.
- Ich kenne gute, schlechte und komische Berührungen.
- Ich unterscheide zwischen guten und schlechten Geheimnissen.
- Ich darf Nein sagen.
- Ich bin schlau, ich hole mir Hilfe.
- Ich bin nicht schuld!
Und wie soll man den Kindern das alles lehren?
Kristin Busch rät: «Am Wichtigsten ist, dass Eltern offen sind und ihre Kinder dem Alter entsprechend aufklären.» Das bedeutet natürlich nicht, dass bereits Kleinkinder über Sex Bescheid wissen. Aber Eltern sollten ihnen von klein auf beibringen, wie ihre Geschlechtsorgane heissen. Wie soll ein Kind seinen Eltern erzählen, dass jemand ihm an die Scheide oder den Penis gefasst hat, wenn es gar nicht weiss, was das ist?
«Muschi» und «Pfiffli» sind natürlich auch tipptopp, wichtig ist nur, dass die Kinder mitreden dürfen. Busch: «Ab einem gewissen Alter findet ein Kind diese Begriffe vielleicht peinlich. Dann sollen die Eltern respektieren, wenn es in Zukunft vielleicht Vagina oder Penis sagt.» So lernt das Kind, dass es mitbestimmen kann, wenn es um seinen Körper geht. «Das ist wichtig, um ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln.» Nur, wer Selbstvertrauen hat, traut sich, Nein zu sagen.
Niemand muss sich küssen lassen
Am besten lernt das Kind das, wenn Mutter und Vater es vorleben. Ein Beispiel: Man gibt seinem Kind einen Schmutz, es dreht den Kopf weg und signalisiert, dass es keine Lust darauf hat. Das sollte man respektieren, etwa, indem man dem Kind sagt: «Entschuldige, du willst keinen Kuss, das ist natürlich okay.»
Dasselbe gilt, wenn am Familienfest alle Onkel und Tanten das Kind abküssen und es sich dabei unwohl fühlt. Busch rät Eltern, dem Kind Schützenhilfe zu leisten und die Verwandten darauf hinzuweisen. «So merkt das Kind, dass man auch zu liebevoll gemeinten Berührungen Nein sagen darf.»
Täglich reden schafft Vertrauen
Nur: Man kann sein Kind nicht rund um die Uhr beschützen. Und Kinder wissen oft nicht so recht, wie ihnen geschieht, wenn sie sexuell missbraucht werden – wie auch? Aber sie spüren, dass sie sich unwohl fühlen. Doch damit sie diesem Gefühl auch vertrauen, brauchen sie Eltern, die sie bestärken, sagt Busch.
Sie empfiehlt, sich täglich Zeit für Gespräche zu nehmen, beispielsweise während des Mittagessens oder nach der Gutenachtgeschichte. Wenn das Kind sich gewohnt ist, den Eltern von seinem Tag zu erzählen, und weiss, dass sie ihm zuhören, fällt es ihm leichter, auch unangenehme Erlebnisse anzusprechen.
Was aber, wenn der Täter das Kind auffordert, das «Geheimnis» für sich zu behalten?
«Dann ist es wichtig, dass das Kind den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen kennt», sagt Busch. Gute Geheimnisse sind, wenn ein Freund verliebt ist und das Geheimnis ein angenehmes Kribbeln und Freude auslöst.
Sexuelle Gewalt an Kindern: Im Jahr 2015 kamen in der Schweiz 276 Kinder wegen sexuellen Missbrauchs ins Spital. 46 Prozent der Täter stammte aus der Familie oder dem Freundeskreis, das zeigen die Zahlen der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie. Die Dunkelziffer liegt um einiges höher, eine internationale Übersichtsstudie kam zum Ergebnis, dass 16 Prozent der Mädchen und 7 Prozent der Knaben sexuell missbraucht werden. Zu den jüngsten Zahlen von 2017 geht es hier lang.
Ein schlechtes Geheimnis ist eines, das im Magen drückt, ein komisches Gefühl gibt und einen traurig oder ängstlich macht. Eltern sollten ihren Kindern sagen: «Solche Geheimnisse darf man jederzeit weitersagen, den Eltern, den Lehrpersonen oder einer anderen Person, der man vertraut.»
Für Erwachsene ist es allerdings oft schwierig, zu verstehen, was vor sich geht. Denn Kinder erzählen gerade happige Erlebnisse oft unzusammenhängend und reden darum herum. Ein Beispiel: Ein Kind erzählt, dass es nicht gerne hat, wenn der Onkel ihm ein bestimmtes Buch vorliest, kann aber nicht sagen, woran es liegt.
Busch rät, das Kind zu unterstützen und zu sagen: «Lass uns doch mal überlegen, wie wir das ändern können.» Ausserdem sollten die Eltern den Onkel beobachten: Fühlt sich das Kind mit ihm wohl? Möchte der Onkel immer gerne mit dem Kind alleine im Kinderzimmer spielen? Sucht er übermässig körperlichen Kontakt? Vielleicht braucht das Kind Unterstützung, um sich abgrenzen zu können.
Das Bauchgefühl hat häufig recht
Das ist nicht ganz einfach, schliesslich möchte man nicht Verwandte oder Freunde unter Generalverdacht stellen. Offenbar passiert jedoch das Gegenteil häufiger: «Unserer Erfahrung nach merken es Eltern eher spät, wenn ihre Kinder missbraucht werden», sagt Busch.
Vielleicht haben Vater oder Mutter zwar ein komisches Gefühl, verwerfen das aber wieder. Deshalb ist das Allerwichtigste: «Eltern sollten ihrem Bauchgefühl vertrauen. Wenn sie das Gefühl haben, da stimmt was nicht, sollten sie unbedingt genauer hinschauen und den Mut haben, sich bei Bedarf Unterstützung zu holen.»
Das gilt übrigens auch für die eigenen Grenzen: Auch Eltern dürfen ihren Kindern Nein sagen. Etwa, wenn Tochter oder Sohn bei ihnen ins WC platzen oder zu ihnen in die Badewanne sitzen möchten. «Wenn das für die Eltern okay ist, ist das gut. Aber wenn Eltern spüren, dass ihnen dabei unwohl ist, dürfen sie das sagen.» Denn: Eltern sind für Kinder Vorbild. Wenn Eltern Grenzen setzen, lernen das auch die Kinder.
Doch sind wir ehrlich: Das alles ist unglaublich schwierig. Und wenn man sich vor Augen führt, dass die Hälfte der Übergriffe in der Familie und im Freundeskreis passieren, könnte man glatt paranoid werden. Doch das Kind daheim zu behalten, wäre kontraproduktiv. So sagt Busch: «Vertrauen Sie Ihrem Kind, dass es sich wehren kann.» Wenn das Kind Vertrauen von den Eltern spürt, kann es auch Selbstvertrauen entwickeln.
Wenn Sie unsicher sind, ob Ihr Kind Gewalt erlebt hat, oder Sie selbst Missbrauch erleben: Holen Sie sich Hilfe. Die Opferhilfe beider Basel berät Sie kostenlos und auch anonym. Tel. 061 205 09 10.