Soziale Medien – wirklich sozial?

Die Privatsphäre wird in der Welt der neuen Medien zum Luxus: Wer Privates nicht öffentlich macht, ist verdächtig. Und viele Topshots der Hightech-Bewegung vertreten reaktionäres Gedankengut.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Privatsphäre wird in der Welt der neuen Medien zum Luxus: Wer Privates nicht öffentlich macht, ist verdächtig. Und viele Topshots der Hightech-Bewegung vertreten reaktionäres Gedankengut.

Facebook und Twitter kennt jeder, doch was ist mit LinkedIn, Xing, Flickr, Pininterest, Tumblr oder Houzz? Soziale Medien vermehren sich wie die Karnickel. Für jeden und jedes Bedürfnis gibt es heute soziale Medien. Sie vermitteln Freunde, Geschäftspartner, Kunden oder Leute mit gleichen Interessen. Sie werden für den Sturz arabischer Diktatoren verantwortlich gemacht und bereiten den Genossen der KP in China schlaflose Nächte. Sie verhelfen Randgruppierungen wie der Piratenpartei zu Wahlerfolgen und lassen Zukunftsforscher wie Jeremy Rifkin von einer kommenden «emphatischen Zivilisation» schwärmen. Dank den sozialen Medien sind alte Werte wie Teilen und Gemeinschaft wieder angesagt, jubeln Soziologen. Wirklich?

Was wir heute soziale Medien nennen, ist die konsequente Weiterentwicklung der sogenannten Long-Tail-Ökonomie. Was darunter zu verstehen ist, schildert Chris Anderson in seinem Bestseller «The Long Tail». Anderson ist Chefredaktor der IT-Kultzeitschrift «Wired». Die Welt der Long-Tail-Ökonomie ist von einer Fülle von unbekannten Menschen und Amateuren bevölkert. «Das ist die Welt der Blogger, Videofilmer und Garagenbands, die plötzlich ein Publikum erhalten.»

Ihren Namen hat die Long-Tail-Ökonomie vom «20:80»-Prinzip. Darunter versteht man ein Phänomen im Handel, das man zwar nicht rational erklären, aber immer wieder beobachten kann: 20 Prozent der Güter sorgen für 80 Prozent des Umsatzes. Das gilt etwa für die Musikindustrie. In einem traditionellen Plattengeschäft – wenn es denn überhaupt noch existiert – sorgt ein Fünftel des Sortiments für den gesamten Umsatz. Will man dies grafisch abbilden, erhält man folgendes Diagramm: Auf der vertikalen Achse führt man die Titel, auf der horizontalen den Umsatz auf. So erhält man eine Kurve, die am Kopf hoch anfängt, zunächst steil abfällt und dann mehr oder weniger parallel entlang der Horizontalachse verläuft. Auf diesem «langen Schwanz» sind alle CDs vertreten, deren Verkäufe minim sind.

Märkte auf den Kopf gestellt

Solange CDs in Läden aufbewahrt werden müssen, herrscht die Skalenöko­nomie: Das Sortiment muss dem «20:80»-Prinzip untergeordnet werden. Die Auswahl der Titel ist klein. Wer sich im Bereich des langen Schwanzes befindet, fliegt raus. In der lagerkostenfreien digitalen Welt dagegen sieht das ganz anders aus. «Was, wenn die gesunden Nischenprodukte zusammen mit den Flops einen Markt bilden, der gleich gross, vielleicht sogar grösser ist als der Hitmarkt?», fragt Anderson: «Es würde einige der grössten Märkte der Welt auf den Kopf stellen.»

Die Musikindustrie gehört zu den Märkten, die bereits durch die Long-Tail-Ökonomie auf den Kopf gestellt worden sind. Das Internet hat die Verhältnisse weitgehend umgekrempelt. Plattenlabels, die noch vor Kurzem die Industrie dominiert haben, kämpfen ums Überleben, traditionelle Plattenläden sind am Aussterben. Doch gerade das Aussterben der Dinosaurier führt nicht in den kulturellen Einheitsbrei, sondern in die Vielfalt. «Unsere Kultur und unsere Wirtschaft bewegen sich zunehmend weg von einem Kern einer relativ kleinen Anzahl von Hits (Mainstream-Produkte und Märkte) am Kopf der Kurve und hin zu einer gewaltigen Anzahl von Nischen im langen Schwanz», ist Anderson überzeugt. «In einer Ära, in der es keine physischen Beschränkungen durch Regale und keine Flaschenhälse der Distribution mehr gibt, sind auch Güter, die sich bloss an Minderheiten richten, wirtschaftlich attraktiv geworden.»

Die neue Macht der Laien

In der Long-Tail-Welt verschwinden nicht nur Lager und Regale, auch die Grenzen von Künstler und Amateuren werden unscharf. Wenn die Werkzeuge zur Produktion allen zur Verfügung stehen, werden alle zu Produzenten. Aber wer verhindert, dass wir nicht mit qualitativ fragwürdigen Produkten zugemüllt werden? Die Antwort lautet: Es braucht wirksame Filter. Auch diese Rolle übernimmt der Laie: Er wird zum einflussreichsten Kritiker.

Angenommen, Sie mögen eine bestimmten Musiker, sagen wir Bob Dylan. Wenn Sie bei iTunes, Amazon oder sonst einem Internetanbieter einen Song oder eine CD von ihm kaufen, werden Sie automatisch mit Empfehlungen eingedeckt. Gleichzeitig können Sie auf Blogs eine Fülle von Ratschlägen von anderen Dylan-Fans abrufen. Auf diese Weise können Sie immer weiter entlang des langen Schwanzes wandern, sei es zu immer selteneren Aufnahmen des Künstlers oder sei es zu anderen Künstlern, die einen ähnlichen Stil pflegen. Jetzt gilt betriebswirtschaftlich plötzlich die alte Bauernweisheit: Auch Kleinvieh macht Mist. In den Offline-Schallplattengeschäften be-stimmen die 1000 wichtigsten Alben 80 Prozent des Umsatzes. Online machen diese 1000 Alben weniger als einen Drittel des Umsatzes aus, rund die Hälfte des Online-Umsatzes wird von Alben gemacht, die unter den Top 5000 sind.

Nicht nur die Grenzen zwischen Profis und Laien, zwischen Kritikern und Publikum werden verwischt, auch die Trennung von privat und öffentlich wird unscharf. Oder wie es der Social-Media-Guru Jeff Jarvis formuliert: «Wenn du nicht bei Google gefunden werden kannst, ist das so, als ob es dich nicht geben würde.»

Die Privatsphäre wird zum Luxus. «Sich in der Öffentlichkeit darzustellen, ist eine Sache des Selbstinteresses geworden», so Jarvis. «Jedes Mal, wenn du dich entscheidest, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen, gehst du das Risiko ein, dass deine Kunden dich nicht finden oder dass sie dir nicht vertrauen, weil du Geheimnisse hast. Publicness (ein von Jarvis selbst kreierter Begriff, Anm. d. Red.) wird eine Frage der Ethik. Je öffentlicher dein Leben ist, desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich.»

Das Ende des Privaten

Soziale Medien und Long-Tail-Öko­nomie gehen so Hand in Hand mit einem neuen Lebensstil. «Publicness ist mehr als nur sein Frühstück mit anderen auf Twitter zu teilen, seine Meinung auf ­einem Blog kundzutun oder sich nackt in der Sauna zu zeigen», sagt Jeff Jarvis. «Es zeigt auch die Haltung einer Ge­sellschaft gegenüber Chancen und Risiken.»

In der Long-Tail-Ökonomie wird das Sich-zur-Schau-Stellen zu einer Art Währung. Facebook und Twitter be­sitzen kaum physische Vermögens­werte wie Immobilien oder teure ­Maschinen. Ihr Reichtum ist ihr Netzwerk. Firmen werden ihren Wert bald mehr darin messen, wie gut ihre Verbindungen sind, als beim Wert der ­Dinge, die sie besitzen.
Das gilt auch für ein sehr traditionelles Gewerbe wie die Gastronomie. Ein traditioneller Gourmetkoch hütet seine besten Geheimnisse wie seinen Augapfel. Die digitale Ökonomie hingegen verzichtet auf Spezialwissen und setzt auf die Schwarmintelligenz. «Veröffentliche deine Rezepte online und lade deine Gäste ein», rät Jarvis, «denn ein gutes Restaurant hat Gäste, die gutes Essen kennen und schätzen.»

In der digitalen Welt wird Google zu einer Art Betriebssystem. Smartphones, Notebooks, intelligente Haushalts- und Überwachungsgeräte – alle übermitteln jede Menge von Informationen über uns, die koordiniert werden müssen. «Google hört und spricht durch diese Geräte, wenn wir es erlauben», schreibt Jarvis, «Go ogle würde diese Information am liebsten gezielt vermitteln und uns nur für uns relevante Werbung unterbreiten.»

Intellektuelle und Sozialwissenschaftler liefern sich noch hitzige Gefechte, wenn es um Schwarmintelligenz und «Big Brother»-Google geht. In der wirtschaftlichen Realität haben die philosophischen und ethischen Einwände wenig Gewicht. Auch an der Börse sind die sozialen Medien zu Rennern geworden. Wie aber lässt sich dies vereinen mit den Visionen eines sanften Ökokapitalismus und einer neuen, emphatischen Zivilisation, deren Mittelpunkt die sozialen Medien sein sollen?

Das Silicon Valley ist nach wie vor der Nabel der Welt der IT-Gemeinschaft. Weil es bei San Francisco liegt, mögen ältere Semester versucht sein, die sozialen Medien mit der Hippiekultur und Flower Power in Verbindung zu bringen – nicht nur wegen den Werten wie Teilen und dem neuen Hype um Gemeinschaft. Auch die Freaks des Valleys frönen einem lockeren Lebensstil mit Turnschuhen und Jeans und verachten die pingelig gekleideten Banker der Wall Street.

Keine Hippies mit Laptop

Doch die Nerds des Silicon Valley sind keine modernen Hippies mit Laptops. Das unter ihnen vorherrschende Weltbild ist weder von Liebe und Frieden geprägt noch von Drogen, Sex und Rock ’n’  Roll. Das Weltbild der Techno-Freaks ist eine krude Mischung aus Neoliberalismus und Sozialdarwinismus.

Das war schon immer so. William Hewlett und David Packard haben einst in einer Garage in Palo Alto HP gegründet, inzwischen einer der führenden IT- und Elektronikmultis. Später wurden sie wichtige Mentoren und Sponsoren der Stanford University, heute noch der Vatikan der Hightech-Gemeinde. Hewlett und Packard waren kumpelhafte Chefs, aber ihre politische Gesinnung war erzkonservativ. Packard war stellvertretender Verteidigungsminister in der Regierung Richard Nixons – auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges.
Bis in die jüngste Vergangenheit hat HP Manager mit einem Hang zur Politik hervorgebracht. Zwischen 1999 und 2005 war Carly Fiorina CEO. Sie hat sich als knallharte Saniererin und glücklose Strategin einen Ruf geschaffen. Vor zwei Jahren wollte sie als Kandidatin der Republikaner die Demokratin Barbara Boxer aus dem Senat verdrängen, scheiterte jedoch kläglich.

Libertäre Anarchisten

Ebenso erging es Meg Whitman. Sie wollte Arnold Schwarzenegger als Gouverneur von Kalifornien beerben, konnte jedoch trotz einem Aufwand von angeblich 100 Millionen Dollar ihren demokratischen Konkurrenten Jerry Brown nicht bezwingen. Auch Whitman ist eine Ikone des Valley. Sie ist heute Verwaltungsratspräsidentin von HP. Berühmt wurde sie jedoch als CEO des Internetauktionshauses eBay. Dieses wurde zwar tatsächlich von einem französischen Althippie erfunden, wurde aber dank Whitmans knallharter Führung zu einem der ersten und grössten Erfolge eines Online-Unternehmens.

Die Republikaner des Silicon Valley sind keine konservativen Moralisten oder christlichen Fundamentalisten. Libertäre Anarchisten hingegen genies­sen grosses Ansehen. Sie kennen die Bücher von Ayn Rand, einer russischen Emigrantin und erfolgreichen Autorin. Ihr erfolgreichster Roman «Atlas Shrugged» handelt von einem Unternehmer, der sich erfolgreich gegen Staat und Gewerkschaften durchsetzt. Rand selbst war eine zu Exzentrik neigende Frau, die ihren bohèmehaften Lebensstil mit jugendlichem Liebhaber und Salons zelebrierte. Zu ihren bekanntesten Anhängern gehört Alan Greenspan, einst Präsident der US-Notenbank.

Oder Jim Clark: ein Prototyp des libertären Anarchisten im Geiste der Computerfreaks. Der Sohn eines Alkoholikers und einer Arztgehilfin aus einem Kaff in Texas flog mit 16 aus der Schule, landete bei der Navy, wurde dort zufällig auf seine Intelligenz getestet und schnitt dabei so sensationell ab, dass er im Zeitraffer Mathematikprofessor wurde. In den 1990er-Jahren landete Clark in Stanford und wurde bald der coolste Software-Ingenieur im Valley. Er gründete zunächst die Kultfirma Silicon Graphic Industries und wurde später als Co-Erfinder des ersten Netz-Browsers Netscape Milliardär. Er ist ein Mann der Exzesse: Als Hobby leistet er sich teure Motorräder und eine 100-Millionen-Dollar-Yacht, die sich selbst steuern kann und in deren Salon Original-Picassos hängen.

Bekennender Ayn-Rand-Fan ist auch Jimmy Wales, der Gründer von Wikipedia. Oder der Gründer von PayPal, Peter Thiel. Dem Erfinder dieses Onlinebezahldienstes wird grosser wirtschaftlicher und politischer Einfluss zugeschrieben. Er hat massgeblich geholfen, LinkedIn an die Börse zu bringen und verfügt über ein Milliardenvermögen. Einen Teil davon stellte er dem ewigen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Ron Paul, als Wahlhilfe zur Verfügung. Der über 70-jährige Texaner ist eine Kultfigur unter den libertären Anarchisten. Er will den Sozialstaat abschaffen.

Thiel ist auch einer der Geldgeber eines Sozialexperiments in Honduras. Es heisst «Future Cities Development» und wurde von Patri Friedman, einem Enkel des legendären Ökonomen Milton Friedman, gegründet. Das Projekt geht auf eine Idee von Paul Romer zurück, ebenfalls eine bekannte Figur in der IT-Szene. Als Ökonom ist er eine Kapazität auf dem Gebiet der Innovation und seit Jahren Kandidat für einen Nobelpreis. Als IT-Unternehmer hat er verschiedene erfolgreiche Firmen ins Leben gerufen, vor allem auf dem Gebiet der Internetbildung, und wurde so sehr reich. Romer will mit sogenannten «Charter Cities» die Entwicklung in den ärmsten Ländern vorantreiben. Es handelt sich dabei um Städte, die vom Westen gebaut werden. Einheimische dürfen darin unter festen Regeln wohnen und arbeiten, haben aber kein Stimmrecht. Eine Art Singapur, nur noch autoritärer.

Neue globale Monopole

Wie sozial sind also die sozialen Medien? Die Antwort fällt widersprüchlich aus. Die Grundidee basiert auf der Long-Tail-Ökonomie, einer Welt, in der innovative KMU auf Augenhöhe mit mächtigen Multis konkurrieren können. In der Realität haben sich gerade in dieser Welt innert kürzester Zeit neue globale Monopole wie Google, eBay, Facebook, iTunes etc. herausgebildet, die ihre Konkurrenten an die Wand klatschen.

In dieser Welt tummeln sich exo­ti­sche Milliardäre, die den Staat verachten und libertär-anarchistische Politi­ker mit Millionen unterstützen. Es ist eine Welt, in der virtuell eine neue, empathische Zivilisation gefeiert wird. In der Realität wird die Aushungerung des Sozialstaates vorangetrieben. So gesehen sind die sozialen Medien ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ohne politische Begleitung werden sie uns keinen sanften, demokratischen Ökokapitalismus bescheren. Wahrscheinlicher ist, dass sie uns in eine autoritäre, neue IT-Welt führen werden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.06.12

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