Kroatien scheitert am Flüchtlingsandrang: Die Regierung wollte es unbedingt besser machen als Nachbar Ungarn, nun steht sie in der Kritik.
Firas Alshikh Khadour bekommt am eigenen Leib zu spüren, dass Kroatien sich nicht auf die Verschiebung der Balkanroute vorbereitet hat. Der 22-jährige Ingenieurstudent aus Syrien wartet am Bahnhof von Tovarnik mit Tausenden anderen auf eine Möglichkeit, schnell weiter in Richtung Schengenraum zu gelangen: «Die Kroaten haben sich offenbar nur auf 100 Flüchtlinge vorbereitet. Sie sind völlig überfordert. Wenigstens ist die Polizei sehr entspannt. Sie behandelt uns nett, beantwortet Fragen und bleibt friedlich.»
Er und seine vier Freunde machen einen sehr gepflegten Eindruck und sind frisch rasiert. Sie sprechen eloquent und sind auf ihren Asylantrag in Deutschland bestens vorbereitet. Die nötigen Dokumente wie Ausweis und Uni-Zeugnisse hat Firas Alshikh Khadour bereits vor der Abreise auf Deutsch übersetzen lassen. Sogar eine Urkunde seines religiösen Oberhauptes hat er dabei, die ihm die Zugehörigkeit zu seiner religiösen Gruppe, den Ismailiten, bestätigt. «Wir wollen nach Deutschland. Den Behörden dort wollen wir so wenig wie möglich zur Last fallen. Als Syrer ist es uns ohnehin schon unangenehm, überhaupt unsere Heimat verlassen zu müssen.»
In der Nacht auf Montag räumte die kroatische Polizei den Bahnhof Tovarnik, davor suchten Tausende Flüchtlinge ihr Glück auf dem Weg ins Schengenraum an diesem Ort. (Bild: Philipp Breu)
Am Bahnhof Tovarnik gibt es fast nichts ausser 4000 Menschen, die schnell weiter wollen und ohne Matten auf dem Asphalt sitzen. Die Sonne heizt den Ort am Tag auf, und es gibt kaum einen Platz im Schatten. Nachts wird es kalt. Sonntagabend begann die Polizei, den Bahnhof zu räumen und die Menschen in ein nahegelegenes Lager zu bringen.
«Das europäische Gesicht Kroatiens hielt 16 Stunden»
Nachdem die Grenze zwischen Ungarn und Serbien am vergangenen Dienstag durch einen Zaun für Flüchtlinge vollständig geschlossen wurde, haben sich die Flüchtlinge nach Kroatien aufgemacht. Eigentlich wollte die kroatische Mitte-Links-Regierung um den sozialdemokratischen Premier Zoran Milanović anders und vor allem humaner reagieren als die Nachbarn in Ungarn. Die kroatischen Behörden sind allerdings nicht vorbereitet.
Ein überraschender Fakt, weil seit Wochen bekannt ist, dass Ungarn die Grenze zu Serbien schliesst und ein einfacher Blick auf die Landkarte genügt hätte, um abzuschätzen, wohin die Reise danach geht. Als von Mittwoch auf Donnerstag rund 7000 Flüchtlinge die serbisch-kroatische Grenze überquerten, machten auch die Kroaten ihre Grenzübergänge zu. Trotz aller gegenteiliger Verlautbarungen der kroatischen Regierung – es wäre naiv zu glauben, dass es jemals anders geplant war.
Das serbische Leitmedium «Politika» titelte am Samstag: «Das europäische Gesicht Kroatiens hielt 16 Stunden». Serbien und Kroatien, die aufgrund der Jugoslawienkriege nicht immer die besten bilateralen Beziehungen pflegen, haben nun einen neuen Streitpunkt. Der Tenor in Belgrad ist, dass man sich selber der humanitären Krise stellt und rund 150’000 Flüchtlinge durch das Land gebracht hat, während die kroatischen Nachbarn in der EU bereits nach 16 Stunden das Handtuch werfen.
Unter den Serben geht die Angst um, dass zehntausende Menschen im Land bleiben könnten, wenn der Weg nach Kroatien und Ungarn versperrt wird. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Flüchtlinge es in diesem Fall durch Bosnien und Herzegowina oder Rumänien versuchen werden. Zwar haben bereits Politiker aus Bosnien und Herzegowina angekündigt, die Grenzen im Notfall schliessen zu wollen, doch wer die Grenzübergänge im Land kennt, weiss, dass die dortigen Behörden das nicht schaffen.
Ungarn gab währenddessen die Fertigstellung des Stacheldrahtzaunes an der Grenze zu Kroatien bekannt. Dieser soll die 41 Kilometer lange Landesgrenze zu Kroatien abriegeln. Die restlichen 330 Kilometer werden vom Fluss Drau gebildet. Ungarn droht offen, einen Beitritt Kroatiens zum Schengenraum zu blockieren, falls sie weiterhin Flüchtlinge nach Ungarn lassen.
25’000 Flüchtlinge in Kroatien
Tausende Flüchtlinge versuchten am Freitag (18.9.2015) einen Zug nach Zagreb zu erreichen. (Bild: Philipp Breu)
Am Sonntag gab das kroatische Innenministerium Zahlen heraus, laut denen allein seit Mittwoch rund 25’000 Flüchtlinge in Kroatien ankamen. Davon befanden sich rund 4000 um den Bahnhof Tovarnik, bevor dieser geräumt wurde. Kroatien bringt seit Freitag die Flüchtlinge mit Bussen an die ungarische Grenze. Ungarn bringt sie seinerseits mit Bussen und Zügen in die Nähe der österreichischen Grenze. Nach ungarischen Polizeiangaben sind auf diese Weise bisher 16’000 Flüchtlinge von Kroatien nach Ungarn gekommen.
Die kroatische Tageszeitung «Jutarnji List» veröffentlichte am Freitag den Inhalt eines Telefonats zwischen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem kroatischen Premier Milanović. Merkel forderte, die Flüchtlinge länger in Kroatien zu behalten und ihre Ausreise zu stoppen. Milanović liess die deutsche Bundeskanzlerin wissen: «Wir können das nicht.» Einig waren sich beide nur darin, dass Griechenland die Hauptschuld trägt, weil es die Flüchtlinge entgegen dem Dublin-Abkommen einfach weiterschickt.
«Das hiesse Menschen zu töten»
Die kroatische Regierung hat nicht nur mit Kritik aus dem Ausland zu kämpfen. Die Opposition versucht die Flüchtlingskrise für sich zu nutzen und damit Wahlkampf zu machen. Die konservative kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović deutete bereits an, wohin die Reise geht, falls die nationalkonservative HDZ als Siegerin aus den baldigen Parlamentswahlen hervorgeht. Sie fordert, das Militär zur Grenzsicherung einzusetzen, was der sozialdemokratische Premier Milanović entschieden ablehnt: «Die Grenze kann man nur mit Gewalt schliessen. Wir werden nicht die Armee an die Grenze schicken, weil das hiesse, Menschen zu töten.»
Obwohl die HDZ sich in den vergangenen Jahren in Richtung Mitte bewegte, ist die Zahl der Rechtspopulisten und Islamgegner in der Partei weiterhin gross. Die Oppositionspartei wird versuchen, die Flüchtlingskrise zu nutzen, um als Sieger aus den bald bevorstehenden Wahlen hervorzugehen.
(Bild: Philipp Breu)
Als unkontrolliert Hunderte Flüchtlinge einen Zug in Tovarnik stürmten, waren so viele Menschen in den Zug gelangt, dass sie an die Fenster gedrückt wurden. An denen bildete sich schon nach wenigen Sekunden Kondensat. Die beschlagenen Fenster nutzten die Flüchtlinge, um nach «Hilfe» oder «Luft» zu bitten. «O2» schrieben manche in Lettern auf die Scheiben.
Minuten später versuchte die Polizei die Waggons erfolglos zu räumen, da einige Frauen und Männer bewusstlos hinaus getragen wurden. Der Zug hielt insgesamt zwölf Stunden, doch kaum jemand wollte die Waggons verlassen, um nicht den Platz zu verlieren.
EU-Mitglied Kroatien erfüllt so indirekt die Bitte von Angela Merkel, aber sie dürfte sich den Ausreisestopp kaum so vorgestellt haben.
Kinder bitten in einem überfüllten Zug nach Zagreb um Hilfe und Luft. (Bild: Philipp Breu)