Im Rahmen des zehnjährigen Jubiläums der Fachstelle «Gleichstellung und Integration von Menschen mit einer Behinderung» haben Behinderte und Nicht-Behinderte Texte zum Thema vorgelesen. Wir haben sie ergattert und publizieren sie nacheinander.
Die Fachstelle für «Gleichstellung und Integration für Menschen mit einer Behinderung» versucht seit zehn Jahren, die Berührungsängste mit dem Thema Behinderung zu verringern. Ein regelmässiger Bestandteil der Bemühungen ist der «Palaver Loop», ein Abend mit Vorträgen und Podiumsgesprächen, aber auch kreativen Beiträgen von Schriftstellern und Musikern. Diesen Montag fand der Themenabend zum 20. Mal statt.
Das Thema Behinderung ist in Kunst, Literatur und Theater «noch immer extrem unterrepräsentiert», sagt Martin Haug, Leiter der Fachstelle «Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung». Dies solle geändert werden, unter anderem mit dem «Palaver-Loop». Im Laufe des Abends haben behinderte und nicht-behinderte Schreibende die Gelegenheit genutzt, ihre Texte zum Thema vorzulesen. Wir haben drei Texte ergattert, die wir in den kommenden Tagen veröffentlichen.
Den Anfang macht Walter Beutler mit seinem Text. Der 57-Jährige erkrankte mit vier an Kinderlähmung, und ist seither Rollstuhlfahrer. Er hat ein Übersetzerdiplom mit Spanisch und Französisch als Fremdsprachen und wohnt in Arlesheim. Auf seinem ehemaligen Blog kann man noch immer weitere Texte von ihm lesen.
Teilhaben, Teilsein – Warum ist das bloss so schwer?
Warum ist es bloss so schwer, als Behinderter Teil dieser unserer schweizerischen Gesellschaft zu sein? Liegt es an mir, liegt es an euch? Zugegeben: Als junger Rollifahrer wollte ich das gar nicht so sehr. Zu eng schien mir der Rahmen, der für mich vorgesehen war, zu eng auch und freudlos waren mir die Wege dorthin. Meine Behinderung war ein Versprechen, es anders zu machen. Sie war reines Potenzial, eine Art Narrenfreiheit. Sie schützte mich vor dem Druck, in dieselbe Richtung rennen zu müssen wie die anderen auch. Ich konnte ja gar nicht rennen…
Inzwischen habe ich rennen gelernt – zumindest schnell rollen. Fast so schnell wie ein Fussgänger rennt. Inzwischen möchte ich ein Mitglied dieser Gesellschaft sein, wenn auch nicht unbedingt ein nützliches in dem Sinne, wie es die Postmoderne vorgibt. Aber doch ein hilfreiches, munteres Mitglied. Nur so komme ich zu den Streicheleinheiten, ohne die es nunmal nicht geht. Und ich glaube, das ist mir gar nicht so schlecht gelungen.
Jedenfalls werde ich zuweilen gestreichelt. Ich bin also inzwischen in unserer schweizerischen Gesellschaft angekommen – teilweise zumindest. Nicht dass sie mich mit offenen Armen empfangen hätte. Sie hat sich geziert und gewunden – und tut es heute noch. Sie rollt mir Stolpersteine in den Weg und lässt mich zuweilen merken, dass ich nur geduldet bin. Mehr als die offensichtlichen sind es die Stolpersteine in den Köpfen der Menschen, die mir je nach Tagesverfassung mal zu schaffen machen oder mal auch nur ein fast schon resigniertes Lächeln entlocken.
Oder wie würden Sie reagieren, wenn Ihnen zum x-ten Mal zu verstehen gegeben wird – nicht anders als schon vor dreissig, vierzig Jahren, bloss etwas subtiler, vielleicht politisch korrekter –, dass Sie im Grunde genommen ein bedauernswertes Geschöpf sind – so bedauernswert, dass man es nicht ganz ernst zu nehmen braucht? Oder was würden Sie sagen, wenn Ihnen der Stempel «behindert» aufgedrückt wird, als sei es ein Judenstempel, den man nicht mehr richtig los wird? Zugegeben: Ich überspitze und klage auf hohem Niveau. Trotzdem staune ich ob der Langlebigkeit der Vorurteile. Und dass es hauptsächlich diese sind, die mich behindern. Mit dem Rest kann ich leben. Doch an diese Vorurteile, an diese subtilen Watschen kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Und dabei ist mir klar, dass es nicht böser Wille ist, der mir hier entgegen züngelt, eher eine Art Dumpfheit, fehlende Wachheit und ein Denken und Empfinden, das in Schubladen gesperrt ist. Dies zu ändern wird wohl noch Generationen dauern.
Warum ist es so schwer, als Behinderter selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft zu sein? Ist es, weil wir durch unser schieres Dasein verborgene Sehnsüchte dieser Gesellschaft, kollektive Träume in Frage stellen, etwa die Suche nach dem Paradies? Gibt es im Paradies Menschen mit Behinderung? Und stehen wir, nur indem wir als Versehrte sichtbar sind, diesem Traum vom Paradies auf Erden im Wege? Wir verkörpern das Leiden, obschon manche von uns weniger leiden als manche von euch. Wir verkörpern die Hinfälligkeit. – Eine nicht ganz ungefährliche Rolle, die ihr uns da zuweist. Was, wenn wir im Zuge des Projekts «Paradies auf Erden» zusammen mit Schmerz und Leid, zusammen mit Schwäche und Gebrechlichkeit abgeschafft werden? Warum ist es bloss so schwer, selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft zu sein?
Als nächstes wird ein Text von Eva Seck publiziert. Die 28-Jährige studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und führt heute mit zwei Kollegen das Literaturbüro Olten.