Den «New Yorker» gibt es neu auch am Bildschirm zu lesen: Amazon hat das geschichtsträchtige Magazin als Fernsehserie verfilmt. Wir haben reingeschaut.
Wer ihn einmal gelesen hat, bleibt ihm für immer treu: Der «New Yorker» gehört seit seiner Gründung vor über 90 Jahren zu den beliebtesten Kulturzeitschriften der Welt. In Amerika heissgeliebtes Magazin des Bildungsbürgertums, hierzulande poetische Verdichtung des schwer greifbaren Land of the Free, gepaart mit den unangefochten schönsten Covers, die die Magazinwelt zu bieten hat.
Dabei ist der «New Yorker» auf den ersten Blick mehr als ungewöhnlich: Das wöchentlich erscheinende Magazin hält sich kaum an aktuelle Themen und Debatten, reiht frischfröhlich und anarchisch ellenlange Reportagen, Kurzgeschichten, Porträts und Gedichte aneinander und beweist in seinen berühmten Cartoons, die scheinbar willkürlich mitten in die Texte eingebaut sind, einen abstrusen Sinn für Humor.
Cartoon, wie sie munter gestreut im «The New Yorker» auftauchen: Lustig? Naja.
Wieso er trotzdem so leidenschaftlich gern gelesen wird? Genau deswegen: Der «New Yorker» bildet das Leben abseits der ewig hetzenden News-Maschinerie ab, seine Autoren nehmen sich Zeit für ihre Geschichten, Monate, manchmal Jahre. Die Storys, die man im «New Yorker» liest, kriegt man nirgendwo sonst.
Da sind zum Beispiel ein bewegender Essay über Amerika und den schwarzen Körper im Kontext der Demonstrationen in Ferguson oder ein Longread über Chinas junge Elite, aber auch feste Rubriken wie die Stadtgespräch-Kolumne «The Talk of the Town» oder «Tables for Two» – Restaurantkritiken, die so «on point» sind, dass einem beim Lesen das Wasser im Mund zusammenläuft. Dazu kommen Angebote online: aufwendige Video-Reportagen und sorgfältig produzierte Podcasts, für jeden frei zugänglich.
Im Geiste des Magazins
Die einzigen Formate, die der «New Yorker» noch nicht für sich beansprucht hat, sind Kino und Fernsehen. Und auch hier wird jetzt mit grossem Geschoss eingefahren: Der Dokumentarfilmer Alex Gibney und die Produzentin Kahane Cooperman haben mit Amazon zusammengespannt, um das geschriebene Wort des traditionsreichen Magazins in Bild und Ton zu übersetzen.
Herausgekommen ist «The New Yorker Presents», eine Fernsehserie, die besser nicht zum «New Yorker» passen könnte:
«The New Yorker Presents» sind halbstündige Folgen, die in loser Collagenform den unkonventionellen Geist des «New Yorker» so treffend wiedergeben, dass einem als Stammleser das Herz aufgeht. In der zweiten Episode beispielsweise werfen wir erst einen Blick ins Archiv der Zeitschrift: Unzählige Karteikarten und meterlange Regale, dick bepackt mit beschrifteten Ordnern – Salinger, Capote, Updike. Und eine Archivarin, die seelenruhig ihrer Arbeit nachgeht.
Nach ein paar Minuten ist der Ausflug so unangemeldet zu Ende, wie er angefangen hat, und der nächste Beitrag steht an: fünfzehn Minuten Kurzdoku über junge Bullenreiter in Texas (ausgehend von diesem Artikel), eindringlich, informativ und gut erzählt.
Kurz danach – zack! – das nächste Schmankerl: Eine klitzekurze Entstehungsgeschichte eines Cartoons der Comiczeichnerin Roz Chast – munter zwischen die Geschichten gestreut, genau wie im Heft. Darauf folgt eine Reportage über den Rise and Fall von Atlantic City, den einst glamourösen Küstenort, der heute nur noch für seine verlassenen Casinos bekannt ist.
Dann wieder ein Cartoon, gefolgt von einer zweiminütigen Aufnahme eines Grossstadt-Imkers in New York, ein kurzer Einblick ohne Erklärung. Und schliesslich der bereits erwähnte Essay über schwarze Körper – gelesen von der Autorin und gepaart mit Bildern des afroamerikanischen Malers Jacob Lawrence (der übrigens in Atlantic City geboren ist).
Mehr Collage als Erzählung
«The New Yorker Presents», so viel ist nach diesem ersten Augenschein klar, fällt völlig aus dem Rahmen dessen, was man unter Fernsehen gemeinhin versteht. Weder wird irgendwas moderiert, noch ist klar, wieso welche Beiträge wann wie eingesetzt werden. Die Folgen sind mehr Collage als Erzählung – scheinbar willkürlich springen sie von Thema zu Thema, meisterhaft ausgeführt und einwandfrei produziert.
Alles redet momentan von Storytelling. Der «New Yorker» zeigt – wieder einmal – wies geht, indem er aber eben nicht die vorgetrampelten Pfade wie Multimedia-Reportagen und interaktive Grafiken wählt, sondern sich traditionsgemäss auf das konzentriert, was er am besten kann: Geschichten erzählen.
Wer «The New Yorker Presents» einmal gesehen hat, der bleibt ihr treu, für immer.
Klar sind diese Geschichten auffällig kosmopolitisch und nix für provinzielle Gemüter, für «die alte Lady in Dubuque», wie Journalist Harold Ross in seinem Gründermanifest festhielt. Und seinen amerika-zentristischen Blick kriegt das Magazin auch in der Fernsehversion nicht los. Aber so ist eben der «New Yorker».
Und «The New Yorker Presents» ist sein Ebenbild für die Flimmerkiste, genauso kurios und spannend und sorgfältig wie sein papierener Vater. Und genauso gemacht für eine leidenschaftliche Fanbase: Wer «The New Yorker Presents» einmal gesehen hat, der bleibt ihr treu, für immer.
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«The New Yorker Presents» ist vorerst nur auf Amazon Prime zu sehen – und das Angebot gibt es in der Schweiz bis jetzt noch nicht. Hier kommen Sie trotzdem auf Ihre Kosten beziehungsweise Nicht-Kosten.