Thomas Pynchons «Bleeding Edge»: Zurück in die Gegenwart

Der Verfolgungswahn in Thomas Pynchons New-York-Roman «Bleeding Edge» scheint trotz seines Verfalldatums verblüffend aktuell.

Wie Thomas Pynchon aussieht, weiss niemand. Aber schreiben kann er. (Bild: zVg)

Rummel um den US-Geheimdienst NSA, Herbstmesse in Basel. Das Schöne an einer Geisterbahn ist ja, dass sie die verwirrende Welt für einen kurzen Moment aussperrt: Nichts ist beruhigender als ein guter, alter Pappmaché-Spuk. «Bleeding Edge», das 477-seitige Papiermonster des begnadeten Paranoikers Thomas Pynchon, liest sich über weite Strecken wie eine solche Fahrt. Nur: In was für eine Wirklichkeit steigt man danach aus?

Pynchon setzt in seinem Dotcom-Thriller auf die üblichen Buhmänner: skrupellose Mogule, kalte Krieger und gesichtslose Agenten, die sich im Namen des Kapitals gegen das Leben verschworen haben. Die New Economy ist Geschichte, der Einsturz des World Trade Centers an einem schönen Septembertag im Jahr 2001 steht kurz bevor. Und dazwischen versucht Maxine Tornow herauszufinden, wie das alles miteinander zusammenhängt.

Viele Spuren, noch mehr Sex

Die taffe New Yorker Jüdin ist ein Klischee, wie es eben nur im Buche steht. Maxine ist eine Ermittlerin gegen Wirtschaftskriminalität, eine geschiedene Mutter zweier halbwüchsiger Söhne und eine Herumtreiberin dazu: Selbst als ihr Ex-Gatte Horst aus der Versenkung auftaucht und sich ganz selbstverständlich in Maxines New Yorker Appartement breit macht, kann sie nicht von ihren erotischen Eskapaden lassen.

Mehr Kummer als ihr Liebesleben bereitet Maxine allerdings die Arbeit: Ein Dokumentarfilmer macht sie auf die dubiosen Geschäfte einer Software-Firma aufmerksam, die massenhaft bankrottgegangene Dotcom-Firmen aufkauft. Dabei ergeben Maxines Nachforschungen, dass das Unternehmen nicht nur Spionage-Software entwickelt, sondern auch gigantische Geldmengen in den Nahen Osten schleust.

Es dauert, bis sich die Hinweise und Fährten zu so etwas wie einem Plot verdichten – wobei man sich keine allzu grossen Hoffnungen auf eine Auflösung machen sollte. Wer Pynchons Bücher wegen einer schlüssigen Handlung liest, schreibt ein Rezensent treffend, kann ebensogut Sexszenen bei Jane Austen suchen.

Ein Netz für Nerds

Das Lesen von «Bleeding Edge» gleicht eher dem Hören eines iPods, der verschiedene Audiobücher und eine Menge Mäss-Musik im Shuffle-Modus spielt: Pynchon zieht sämtliche Register und wechselt virtuos zwischen Hoch-, Pop- und Subkultur. Sein achter Roman featured unter anderen Britney Spears, Jay Z und die Hacker der frühen Nullerjahre.

Letztere haben sich mit dem Internet ihre eigene Gegenwelt zum «meat space», der analogen Welt, gebastelt. Mit «DeepArcher», einem Wurmloch in die tiefsten Tiefen des Webs, verlängern sie den uramerikanischen Mythos der Frontier in das Reich der Einsen und Nullen.

Doch auch dieser digitale Zufluchtsort, durch den die Avatare von Computergeeks und Outlaws geistern, ist nicht vor den Suchmaschinen des Big Business sicher: Wie Pynchons Heimatstadt New York  unterliegt auch die Cyber-City der «Yuppifizierung» – ein wiederkehrendes Wort in «Bleeding Edge», das die Kommerzialisierung und Kommodifizierung sämtlicher Lebensaspekte bezeichnet.

Schon früher hat Pynchon sinistere Informations-Netzwerke beschrieben, die ihre Benutzer knechten.

Nicht dass das Internet für den Skeptiker und Maschinenstürmer Pynchon je unschuldig gewesen wäre: «Nenn es Freiheit», lässt er Maxines Vater sagen, «es basiert auf Kontrolle. Alle mit allen verbunden, unmöglich, jemals wieder verloren zu gehen. Verbinde das mit den Handys, und du hast ein totales Netz der Überwachung, unentrinnbar.»

«Bleeding Edge» scheint vor dem Hintergrund des NSA-Skandals besonders hellsichtig, dabei ist der Roman eine Art Update: Pynchon hatte schon 1966 in seinem bekanntesten Buch «The Crying of Lot 49» ein sinisteres Informations-Netzwerk beschrieben, das seine gutgläubigen Benutzer knechtet. Allerdings bestand da noch die Möglichkeit, dass sich alles nur im wirren Kopf der Heldin abspielt. Maxine hingegen ist nicht meschugge. Sie ist New Yorkerin. Und überlebt auch den Fall der Twin Towers.

Hier und jetzt

Die Schilderung der Anschläge vom 11. September gehört zum Eindrücklichsten in «Bleeding Edge», gerade weil Pynchon auf Showeffekte verzichtet. Er liefert keinen apokalyptischen Augenzeugenbericht, wie das manche seiner Schriftstellerkollegen tun, sondern packt das Gräuel («atrocity») in einen einzigen Satz: «Ein Flugzeug ist eben in das World Trade Center gekracht», erfährt Maxine von einem Zeitungsverkäufer.

Auch die Verschwörungstheoretiker stellt Pynchon in den Senkel: Verschwörungen seien zwar das Salz in der Suppe, sagt Maxine einmal. Die Vorstellung aber, die US-Regierung könnte den Anschlag als Vorwand für einen permanenten Kriegszustand inszeniert haben, wird als «hoffnungslos paranoid» bezeichnet.

Nachdem es keine Auflösung mehr geben kann, bekommen die Figuren mehr Raum. Wie geht es mit Maxine, Horst und den Kindern weiter? Es wird Frühling in New York, ein mildes Licht scheint, aber der Autor lässt das Ende offen, er lässt los: Bezeichnenderweise ist «Bleeding Edge» das erste Buch von Pynchon, das nach seinem jahrelangen Widerstand gleichzeitig auf Papier und als Ebook veröffentlicht wurde.

Die Zukunft, die der Autor so lange vorausgesehen zu haben scheint, ist Gegenwart geworden. Wie es von hier aus weiter geht, kann nicht einmal Pynchon sagen. Und man weiss nicht recht, ob das jetzt eher Angst machen soll – oder Mut.

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