Manchmal würde man es gerne so machen wie Doc: Sich auf eine Pritsche legen und mit Lachgas die ganze Absurdität der Welt wegkichern. Oder haben Sie gewusst, dass Zahnärzte Heroin dealen, um die kaputten Zähne der Junkies flicken zu können?
Der Privatdetektiv Doc Sportello ist nur eine Filmfigur. Doch die Verschwörungstheorien, die der psychedelische Thriller «Inherent Vice» während 149 Minuten ausbreitet, tun ihre Wirkung – irgendwann erscheint das Paranoide plausibel. Und umgekehrt. Das macht den Privatdetektiv so einnehmend. Docs Überforderung ist unsere eigene, mit Backenbart und Sandalen.
Licht und Schatten
Der Hippie (Joaquin Phoenix) haust im Los Angeles der 1970er-Jahre in einem Strand-Bungalow, eingehüllt in eine Wolke aus Marihuana und Liebeskummer, als plötzlich seine Ex-Freundin Shasta in der Tür steht. Sie setzt Doc auf einen verschlungenen Fall an, zu dem Nazi-Biker, Black Panther, Charles Manson, Kommunisten, das FBI und ein Geisterschiff gehören. Das passt in keinen Kopf, und als Zuschauer leidet man mit dem angeknitterten Helden mit, der nur von der Couch aufsteht, um einmal mehr auf seine Spürnase zu fallen.
Denn dieser Typ Schnüffler ist schon lange unterwegs, wenn auch unter anderen Namen: Der Doc war schon der Dude aus «The Big Lebowski» und natürlich Philip Marlowe. 1939 hatte der Privatdetektiv seinen ersten Auftritt in einem Roman von Raymond Chandler, 1946 kam «The Big Sleep» in die Kinos. Der Film lief in den USA noch in der Sparte «Melodrama», worauf ein französischer Kritiker für diese finstere Spielart des Kriminalfilms ein eigenes Label erfand – Film noir.
Die Nachkriegszeit prägte den zynischen Grundton des Film noir, deutsche Einwanderer gaben ihm seinen expressiven Look aus wenig Licht und viel Schatten, die immer auch Ausdruck einer moralischen Düsternis waren. Bis heute gibt es keinen Konsens darüber, was den Film noir als festes Genre ausmacht, doch einzelne Elemente tauchen beharrlich auf: das Verbrechen, das unlösbare Rätsel, die sexuelle Spannung, der Blick in psychologische Abgründe. Und natürlich der Ermittler, der gemeinsam mit der Femme fatale, der trügerischen Schönheit, zur Ikone wurde.
Harter Hund
Humphrey Bogart verkörperte Philip Marlowe in Howard Hawks «The Big Sleep» als drahtigen Ermittler mit einem übersteigerten Gerechtigkeitssinn, der leicht ins Selbstzerstörerische kippt. Marlowe ist Kettenraucher und Alkoholiker, der sich lieber verprügeln als bestechen lässt. Er ist «hard boiled», ein harter Hund, hinter dessen schlechten Manieren ein desillusionierter Menschenfreund steckt. In «The Big Sleep» soll er einen Erpresser stellen, doch ist das nur die Spitze des Eisberges.
Beim Verfassen des Drehbuchs zu «The Big Sleep» standen die Filmemacher selbst vor einem Rätsel, der Tod einer Nebenfigur wird in der Vorlage nie plausibel aufgelöst. Auf Anfrage gestand Chandler, dass er selbst im Dunkeln tappe: Der Autor hatte seinen Kriminalroman aus mehreren Kurzgeschichten zusammengezurrt und dabei den Überblick verloren; ein Grundgefühl, das sich durch jeden Film noir zieht.
Relikt vergangener Tage
Die formelhafte Natur des Genres bot schon früh Angriffsflächen für Parodien. Die pointierten Dialoge, die sexuellen Anspielungen und dramaturgischen Exzesse des klassischen Film noir liessen sich leicht verulken. Als Robert Altman 1973 Chandlers «The Long Goodbye» adaptierte, waren die Versatzstücke allerdings längst zu altbackenen Klischees verkommen. Die Drehbuchautorin von «The Long Goodbye», die bereits an Hawks «The Big Sleep» mitgearbeitet hatte, plädierte für einen Bruch.
Elliott Gould spielte Philip Marlowe in Altmans Noir deshalb als Relikt vergangener Tage. Vor seinem Apartment tanzt der Zeitgeist der Siebziger barbusig in einer Hippie-WG, doch der Detektiv ist damit beschäftigt, seine Katze zu füttern und einen Freund über die Grenze nach Mexiko zu bringen – was sich als fataler Fehler erweist. Die Mafia heftet sich an Marlowes Fersen, blondes Gift verdreht ihm den Kopf.
Er ist ein tüchtiger Kerl, aber unter dem Eindruck von Watergate und Vietnam wirkt das Ethos des Ermittlers mit der Stars-and-Stripes-Krawatte überholt. Zuletzt greift Marlowe zur Selbstjustiz und schiesst seinen eigenen Mythos über den Haufen. Das Publikum strafte den Film ab, doch der klassische Ermittler als personifiziertes schlechtes Gewissen überdauerte den Flop: Nur zwei Jahre darauf gewann Roman Polanskis «Chinatown», ein Rätselfilm alter Schule, den Oscar für das beste Drehbuch.
Bademantel statt Trenchcoat
Während Jahrzehnten entwickelte sich der Noir zum Neo-Noir weiter. Die Geschichten mussten nicht mehr zwingend auf die Vergangenheit zurückgreifen, sie durften in der Zukunft spielen wie Ridley Scotts «Blade Runner» (1982) oder in einer Kleinstadt wie David Lynchs «Twin Peaks» (1990). Auch weibliche Ermittler traten in Aktion, etwa in «Fargo» (1996) von den Coen-Brüdern: Die schwangere Polizistin Marge (Frances McDormand) lebt zwar anders als ihre Filmvorbilder abstinent, aber auch sie ist hartgesotten, wenn es die Umstände erfordern.
Überhaupt, die Coens. Schon ihr Debütfilm «Blood Simple» (1984) war ein Noir, anderthalb Jahrzehnte später führten sie ihren bislang unkonventionellsten Ermittler ein, den Dude. In «The Big Lebowski» (1998) tauscht Jeff Bridges den klassischen Trenchcoat gegen einen Bademantel ein, zum Alkohol kommen die bewusstseinserweiternden Zigaretten dazu. Die Ingredienzien sind dieselben wie bei Chandler, gefiltert durch Altmans «The Long Goodbye», die Wirkung ist jedoch noch aberwitziger.
Krieg den Hütten
Eigentlich will der Gammler Jeff Lebowski, den alle den Dude nennen, nur seinen Teppich zurück, der ihm gestohlen wurde. Dieser Teppich hält sein beschauliches Leben zusammen, wie er beteuert, und erklärt doch nichts. In grellen Episoden jagt die Geschichte um einen Erpressungsversuch über die Leinwand, während der Slacker-Detektiv an Ort und Stelle tritt. «The Big Lebowski» ist ein hysterisch komischer Kommentar auf ein verlorenes Jahrzehnt, das sich in seiner vermeintlichen Unschuld einzurichten versuchte: Der irakische Diktator Saddam Hussein, der dem Dude in einem Fiebertraum Bowlingschuhe aushändigt, erinnert allerdings daran, dass es mit dieser Unschuld nicht weit her war.
In «Inherent Vice» tobt ebenfalls der Krieg. Nicht nur im entlegenen Vietnam, sondern auch in den Köpfen einer Generation, die sich um das Zukunftsversprechen der 68er betrogen sieht. Der Traum von der Kommune ist geplatzt, in Los Angeles werden ganze Quartiere mit dem Bulldozer eingeebnet und gentrifiziert. Das Establishment aus Überwachungsstaat, altem Geldadel und Kommunistenhassern zieht den Blumenkindern buchstäblich den Boden unter den Füssen weg.
Digitale Schnüffler
«Inherent Vice», nach einem Roman von Literatur-Exzentriker Thomas Pynchon, ist wie ein Flashback. Doc teilt die Vorlieben des Dude für weiche Drogen, und er droht aus seiner eigenen Zeit zu fallen wie Altmans Marlowe. Der ungleiche Kampf der Habenichtse gegen die «uralten Mächte von Gier und Angst» aber ist zeitlos, schreibt Pynchon und hat dabei die Gegenwart im Blick: «Inherent Vice» ist ein technischer Begriff, der die Unversicherbarkeit schadensanfälliger Güter bezeichnet, doch beschreibt er auch den Fehler in einem System, das kein richtiges Leben im falschen zulässt.
Doc, Dude, Marlowe. Die Figur des Privatdetektivs hat eine lange Reise hinter sich, und er hat Konkurrenz bekommen. Die digitale Schnüffelei ist zu einem Milliardengeschäft geworden, und wer seinen privaten Verfolgungswahn pflegen möchte, kann sich im Netz hoffnungslos verheddern. Es ist eben so, wie Marlowe in «The Long Goodbye» sagte: Die gefährlichsten Fallen stellen wir uns selber.