Kinder kriegt man nicht mehr, Kinder plant man. Trotzdem ist das Leben für die Wunschkinder nicht lustiger geworden.
Eltern wollen immer das Beste für ihr Kind. Das war schon vor 20 und vor 50 Jahren so. Das gilt auch heute. Und noch nie wussten Eltern so viel über Kindererziehung wie heute. Sie haben Ratgeber gelesen, Kurse besucht, sich über die verschiedenen pädagogischen Konzepte informiert – und trotzdem läuft einiges schief.
Das Familienglück wird auf später verschoben
Es fängt schon bei der Zeugung an. Seit Frau nicht mehr einfach so schwanger wird, ist sie älter, wenn sie daran denkt, dass sie jetzt gerne noch ein Kind bekäme. Seit den 1970er-Jahren hat der Anteil der unter 30-jährigen Mütter in der Schweiz stetig abgenommen, während der der 35-jährigen und älteren zunimmt. Na und? Älter heisst reifer, könnte man sagen, heisst: geht bewusster das Abenteuer Kind ein und auch besser damit um. Doch so einfach ist dieser Schluss nicht. Denn da ist zunächst einmal die Natur, die manchen Frauen einen Strich durch ihren so wohlüberlegten Plan macht. Die Chance, auf natürlichem Weg schwanger zu werden, nimmt nämlich mit zunehmendem Alter ab. Bei einer 40-Jährigen ist sie etwa achtmal kleiner als bei einer 25-Jährigen. Zum (Mutter-)Glück gibts jedoch die Reproduktionsmedizin! Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtung, Embryonentransfers, in gewissen Ländern auch Leihmütter, machen möglich, was die Natur nicht vorgesehen hatte.
So ist es kein Wunder, dass sich die Zahl der zwecks Fortpflanzung behandelten Frauen in der Schweiz zwischen 2002 und 2010 fast verdoppelt hat, von 3467 auf 6492. Seit der Geburt von Louise Brown, dem ersten Retortenbaby der Welt, vor gut 30 Jahren wurden weltweit inzwischen vier Millionen ausserhalb des Mutterleibs gezeugte Kinder geboren.
Wenn sich etwas problemlos vermehren konnte, dann waren es Kinderwunschzentren. «Planen Sie Ihre Familie genau so, wie Sie Ihre Karriere planen», heisst es dann etwa in der Werbung eines solchen Zentrums. Alles ist machbar. Theoretisch. Denn zum einen ist nicht alles erlaubt, was machbar wäre. In der Schweiz etwa sind die Gesetze zur Fortpflanzungsmedizin im Vergleich mit anderen europäischen Ländern streng. Und zum anderen sind die Behandlungen nicht immer erfolgreich. Umso grös-ser – und wertvoller – das Glück, wenn die ersehnte Schwangerschaft eintritt. Nichts soll von nun an dieses späte Glück trüben.
Hecheln und pressen will geübt sein
Ich behaupte, noch nie war es so kompliziert schwanger zu sein wie heute. Egal ob die Schwangerschaft durch künstliche Befruchtung zustande kam oder nicht, kaum kündigt der Teststreifen ein positives Ergebnis an, gehts richtig los mit Angst und Unsicherheit. Weitere Tests sind angesagt. Nackenfaltenmessung, Bluttest, Fruchtwasserpunktion – alles, um ganz sicher zu sein, dass alles gut wird. Ganz sicher?
Eben nicht, denn bei jedem Testergebnis kommt noch die Wahrscheinlichkeitsgrösse hinzu. Die Unsicherheit bleibt. Monatliche Ultraschalluntersuchungen, vor 20 Jahren nur bei Risikoschwangerschaften angesagt, sind heute normal. Die dabei gemachten Bilder sind inzwischen dreidimensional – auch wenn das Kind jeweils etwa den Lärm einer durchfahrenden U-Bahn aushalten muss, die Untersuchung gehört zum Standard.
Die Bilder helfen, die Beziehung zum Ungeborenen aufzubauen. Frau kann ja das Kind danach im Haptonomie-Kurs wieder beruhigen. Sie wissen nicht, was das ist? Das ist das, was wahrscheinlich schon meine Grossmutter, meine Mutter und auch ich während der Schwangerschaften gemacht haben, aber intuitiv und gratis: hin und wieder über den Bauch streicheln und mit dem kleinen Wurm da drin ein bisschen reden. Heute ist Haptonomie einer von unzähligen Kursen, die werdenden Eltern angeboten werden und die viele glauben macht, sie absolvieren zu müssen. Bauchtanz für Schwangere, Hypnose-Therapie, Yoga – es gibt alles Denkbare und Undenkbare.
Werdende Väter schnallen sich in speziell für sie ausgerichteten Kursen Bäuche um, damit sie auch ein bisschen schwanger sind. Überhaupt, ein Paar, das heute keinen Geburtsvorbereitungskurs macht, gilt geradezu als verantwortungslos. Denn richtig gebären will gelernt sein, das ist uns schliesslich nicht in die Wiege gelegt worden. Hecheln, pressen kann nur, wer das genügend geübt hat.
Wissen hilft gegen Angst, sollte man meinen. Doch was Kinderkriegen und Kinderhaben betrifft, scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Eine Frauenärztin erzählte mir einmal, wie oft sie Schwangere beruhigen müsse, weil diese etwas gelesen hätten, das sie verunsichere. Eine beispielsweise, die ein Möckli Parmesan gegessen hatte: Käse aus Rohmilch sei doch aber strengstens verboten – ob sie notfallmässig vorbeikommen könne. Eine andere fragte, ob sie den Coiffeurtermin absagen solle, sie habe grad erfahren, dass Haarfärbemittel das Ungeborene schädigen könnten.
Eine fast religiöse Entscheidung ist die Frage nach dem Wie und Wo gebären. Haus- oder Spitalgeburt, im Wasser, sitzend, liegend oder stehend. Mit schmerzstillenden Mitteln oder ohne, per Kaiserschnitt oder natürlich. In Schwangerschaftsforen werden die verschiedenen Methoden zuweilen mit einer Heftigkeit diskutiert, als ob die ganze Zukunft des Kindes davon abhängen würde.
Drillmütter haben Hochkonjunktur
Nun ist das Kind da, es ist gesund. Alles ist gut gegangen, seine Eltern sind glücklich. Das war schon immer so und ist heute noch so. Auch die Sorge um das Wohlergehen dieses kleinen Wesens ist und war wohl allen liebenden Eltern gemein. Und doch ist vieles anders geworden. Vieles besser: Die Kindersterblichkeit ist – zumindest in der westlichen Welt – dank Wohlstand und verbesserter Gesundheitsversorgung enorm zurückgegangen. Auch die Erziehungsmethoden haben sich insgesamt wohl zum Besseren gewandelt. Während die Generation unserer Grosseltern noch glaubte, eine Erziehung ohne hin und wieder eine Tracht Prügel sei eigentlich gar keine Erziehung, wird heute das Schlagen von Kindern zu Recht geächtet, in Deutschland und Österreich ist es sogar gesetzlich verboten.
In der Schweiz wurden Versuche von Kinderschützern, die körperliche Strafe auch hierzulande mit einem Verbot zu belegen, von rechtskonservativen Kreisen stets abgeblockt. Mit dem Argument: Ein paar hinter die Ohren oder ein Klaps auf den Hintern habe noch keinem geschadet. In diesen Kreisen verweist man denn auch gerne, sobald irgendeine problematische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen öffentlich diskutiert wird, auf diese «antiautoritäre» Erziehung der 68er. Die heutige Wohlfühl- und Kuschelpädagogik habe damit Einzug gehalten, tönt die immergleiche Leier.
Dabei hätte gerade A. S. Neill, der 1973 verstorbene schottische Pädagoge, der als «Vater» der sogenannt antiautoritären Erziehung in die Geschichte einging, keine Freude an der heutigen Entwicklung. Der derzeit grassierende Förderwahn wäre ihm ebenso ein Graus wie die angstgesteuerten Eltern, die Helikoptern gleich ständig über ihren Kindern kreisen. Neill vertrat die Ansicht, dass Kinder von Natur aus Freude am Lernen haben. Dass sie diese Freude aber verlören, wenn Angst vor schlechten Noten und Sanktionen sie beherrsche. Es würde ihn schaudern, wenn er wüsste, dass chinesische und andere Drill-Mütter Hochkonjunktur haben. Dass Kinderkrippen besonders gefragt sind, die ein spezielles Förderprogramm für die Kleinen anbieten. Frühchinesisch oder Frühenglisch zum Beispiel. Er würde sich im Grab umdrehen, wenn er lesen müsste, wie kürzlich in einem Beitrag im «Magazin» eine Mutter voller Stolz ihre «Tigermutterqualitäten» zum Besten gab. Die ihrer siebenjährigen Tochter ein 45-Stunden-Woche-Lernpensum abverlangt, damit sie dereinst «im Konkurrenzkampf um einen Platz in einer guten Universität bestehen» kann.
Karriere-Kids – verloren in der Glitzerwelt
Doch was hat der momentane Förderwahn mit der ebenfalls verbreiteten Überbehütung zu tun? Oft geht beides Hand in Hand: mit dem einen Ziel, dass dieses so sorgfältig geplante kleine Wesen einst Zeugnis hervorragender Eltern sein wird. Von Eltern, die alles richtig gemacht haben. Aus lauter Liebe natürlich. Diese Liebe, schreibt der bekannte, diesen Mai verstorbene deutsche Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann in seinem wahrscheinlich letzten Buch «Lasst die Kinder in Ruhe!», scheine jedoch oft wie erstickt unter den von Eltern selbst nicht durchschauten Leistungszwängen. Die da lauten: «Mein Kind muss ganz toll sein», so Bergmann, «sonst wird es seine Zukunft nicht bewältigen.» Das seelische Leben vieler Kinder sei zu grossen Teilen auf reiner Repräsentation aufgebaut, «auf sauberer und glitzernder Selbstdarstellung (…)».
In seiner extremsten Art zeigt sich das bei der aktuellen Hollywood-Prominenz. Während noch vor zehn, zwanzig Jahren Stars mit Kindern kaum zu sehen waren, ist die Regenbogenpresse heute vollgepflastert mit Bildern und Geschichten vom Nachwuchs aus der Glitzerwelt. Und das scheint sich gut zu verkaufen, denn sonst wäre das deutsche Verlagshaus Gruner + Jahr wohl nie auf die Idee gekommen, das Promimagazin «Gala» noch mit einem «GalaKids» zu ergänzen. Wo zum üblichen Gala-Blick ins Familienleben der Brangelinas, Beckhams, KlumSeals und wie sie alle heissen ein paar Extraseiten geboten werden.
Ganz wichtig jeweils die Information, welches Modelabel Mami, Papi und Kids – ja, die heutigen Kinder nennt man Kids, wenn man nicht von vorgestern sein will – tragen. Damit gewöhnliche Eltern ihre Kids ebenso stylen können. Die Vorbilder-Kids haben übrigens nie eine Schnudernase, auch keine aufgeschürften Knie oder Dreck auf der Designerhose. Erkältet? Husten? Durchfall? Beim Spielen einen Arm gebrochen? O Gott! Wenn Klein-Suri so etwas passierte, würde man bestimmt lesen können, dass Mama und Papa deswegen jemanden mit einer Klage in Millionenhöhe bestrafen.
Immer und überall kreisen die Helikopter-Eltern
Auch wenn hierzulande solche Klagen unmöglich sind, der Trend, jede nur erdenkliche Gefahr für die Kinder zu eliminieren, ist längst bei den schweizerischen Eltern angekommen. Es ist nicht lange her, da probten besorgte Eltern in Basel den Aufstand, weil in der Nähe eines Spielplatzes ein Strauch mit giftigen Beeren gepflanzt war. Obwohl heute kaum noch ein Kind ohne Begleitung eines Elternteils auf einem Spielplatz rumtobt, der Strauch musste weg. Oder durch einen unüberwindlichen Zaun von den Kindern getrennt werden, ich weiss das Ergebnis des Aufstands nicht mehr genau. Ich fragte mich nur damals, ob es nicht auch möglich sei, einem Kind einfach zu sagen, dass es diese Beeren nicht in den Mund stecken solle.
Apropos Spielplätze. Auch die sind oder werden derzeit alle den neusten Sicherheitsnormen angepasst. In Zürich muss deswegen ein hohler Baumstamm weichen, weil ein Kind drin steckenbleiben könnte. Ein solcher Fall ist zwar nicht bekannt. Dafür stellen Wissenschaftler eine zunehmende «Elternhysterie» und «Elternparanoia» fest. «Das Kind», schreibt Wolfgang Bergmann, «rückt wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ins Zentrum der modernen Familie.»
Elternliebe verschmelze mit Überfürsorglichkeit und mit Verwöhnung, das Kind sei Sinn- und Selbstverwirklichungsersatz für manche Mütter und Väter. Mit fatalen Folgen für das Kind: «Verwöhnte Kinder sind in aller Regel unglücklich», so Bergmann, zudem würden sie seltsamerweise dieselben Verhaltensprobleme wie vernachlässigte Kinder zeigen. Der Mangel an elterlicher Souveränität behindert gemäss Bergmann die Entfaltung von Körpergefühl, Sprache und Selbstbewusstsein. Kinder brauchen aber Körpererfahrungen, Abenteuer.
«Abenteuer haben uns alle stark gemacht», sagt auch der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther in einem Interview mit «Geo». Dieser Zusammenhang werde inzwischen von der Neurowissenschaft nachgewiesen: «Kinder müssen im Leben möglichst viele Herausforderungen meistern, damit die wichtigsten Vernetzungen im Hirn entstehen», so Hüther. «Und zwar nicht in der Virtualität, sondern in realen Lebenszusammenhängen.» Doch diese reale Welt ist für die Kinder eben ziemlich langweilig geworden, selten eine solche Erfahrung: «Wow, das war aber gefährlich – und ich habs geschafft!» Keine Streiche, keine Raufereien, keine Geheimnisse mehr. Wie denn auch, wenn jedes Hindernis, jede Gefahr aus dem Weg geräumt wird, wenn das elterliche Auge stets alles überwacht und kontrolliert? Unter dem ewig besorgten Blick gehe den Eltern ihre Intuition für das Kind verloren, schreibt Wolfgang Bergmann.
Achtung: big Mama is watching you!
Drinnen ist alles kindersicher, und in die böse Welt nach draussen gehts nur mit Helm und Knieschonern. Wenn das Kind dann etwas grösser ist und hin und wieder ohne elterliche Begleitung mit anderen Kindern spielen darf, dann bitte nur innerhalb des genau vorbestimmten Radius. Das lässt sich sogar kontrollieren. Ein lustig-grünes Kinderhandy namens Fröschli zeigt dank integriertem GPS-Tracking auf Mamis Smartphone den Standort ihres Sprösslings an. Seit der Lancierung im September seien bereits rund 1000 solche Geräte verkauft worden, sagt Vladi Barrosa, Sprecher der Firma Tracker.com. Und dies, obwohl das Fröschli bislang erst online erhältlich war. So richtig mit dem Verkauf losgehen soll es demnächst, wenn Fröschli bei Migros und Mobilezone zum Verkauf angeboten wird. Selbstverständlich, sagt Barrosa, sei das Gerät kein Ersatz für das Grundvertrauen zum Kind.
Das ist auch trotz Fröschli nötig. Denn ein kluges Kind versteckt das Handy irgendwo und rennt los. Um Dinge zu tun, die Mami nicht unbedingt wissen muss. Ich habe erst kürzlich von meinem inzwischen erwachsenen Sohn erfahren, dass er zusammen mit anderen Buben eine Zeit lang mit Eau de Toilettes, die sie aus ihren Badezimmern mitgehen liessen, experimentiert hat. Die Buben wollten schauen, was passiert, wenn man eine Flamme daran hält. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dieses Experiment subito gestoppt. Nicht auszudenken, was dabei alles hätte passieren können! Ich frage mich sowieso manchmal, wie früher die Kinder trotz der vielen Gefahren überleben konnten. Wahrscheinlich hatten sie einfach Glück oder einen guten Schutzengel, wie man damals sagte.
Aber darauf verlässt sich heute niemand mehr. Der Sicherheitswahn ist keine Erfindung der Eltern. Er beherrscht unsere ganze Gesellschaft. Das wird deutlich, wenn irgendwo irgendein Unglück passiert. Reflexartig sind die Medien zur Stelle und fragen nach den Schuldigen. Selbst wenn ein Unwetter über eine Gegend gefegt ist. Wenn sich keiner findet, der beim Bauen etwas geschlampt hat, kann man immer noch den Bucheli vom Wetterdienst der lausigen Prognose beschuldigen.
Um auf die Eltern zurückzukommen: Wenn einem Kind einmal etwas passiert, steht auch hier sofort die Frage im Raum: «Und wo waren die Eltern?» Keine Mutter, kein Vater möchte sich jedoch im Fall eines Unglücks zusätzlich noch vorwerfen lassen, sie hätten halt besser aufpassen müssen. Also lässt man die Kinder am besten nie aus den Augen, begleitet sie in den Kindergarten, später fährt man sie zur Schule.Man steckt sie in der schulfreien Zeit in Kurse, damit sie nicht mit Kindern rumlungern, die man vorher nicht gründlich abgecheckt hat. Man weiss natürlich, dass Bewegung für Kinder wichtig ist, aber das lässt sich ja prima mit einem Familienausflug ins Grüne verbinden. Dann sind Mama und Papa dabei und es kann nichts passieren. Glücklicherweise gibt es in der Schweiz genügend Tage, an denen das Wetter schlecht ist, dann braucht man kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man das Kind nicht nach draussen lässt.
Isoliert wie in einer Gummizelle
Christa Rapp ist seit 41 Jahren Kindergärtnerin in Basel. Was ihr und ihren Kolleginnen auffällt: «Die Alltagskompetenzen der Kinder haben abgenommen.» Häufiger als früher müssten sie Dinge wie Naseputzen, Händewaschen, Schuheanziehen lehren. «Die Kleinkinderzeit», sagt Rapp, «hat sich verlängert.» Nicht selten sehe man relativ grosse Kinder, die immer noch im Buggy sitzen. So stecke in der Überbehütung auch ein Stück Vernachlässigung.
«Es geht halt schneller, wenn man das Kind fährt.» Oder wenn man es anzieht. Die Zeit ist knapp, zu knapp, um dem Kind all diese Dinge zu zeigen. Christa Rapp muss heute Kindern beibringen, wie man einen Ball wirft, einen Purzelbaum schlägt oder den korrekten Umgang mit Messer und Schere zeigen. Es kann sogar vorkommen, dass sie mit einem Kind das Treppensteigen üben muss. Sie lehrt sie, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen. «Dass sie ihren Pulli selber ausziehen, wenn sie heiss haben, dass sie Wasser trinken, wenn sie Durst haben.» Um ihre Selbstständigkeit zu fördern, geht Christa Rapp mit ihrer Klasse oft in den Wald. «Dort können sie sich ausgiebig bewegen und vielfältige Sinneserfahrungen machen.» Sinneserfahrungen, an denen es eben so vielen Kindern fehlt.
Denn dass für die Kinder einiges schiefläuft in der so sorgsam behüteten Welt, dafür gibt es genügend Hinweise. Alarmierende Hinweise. Oder ist das etwa ein gutes Zeugnis für uns Erwachsene, wenn die Hälfte aller Schulkinder inzwischen wegen Schulproblemen therapiert wird, wie die «NZZ am Sonntag» kürzlich berichtete? Oder dass so viele Kinder heute Ritalin und andere Psychopharmaka schlucken müssen, weil Eltern und Lehrer es sonst nicht mit ihnen aushalten? Nein.
Um noch einmal Wolfgang Bergmann zu zitieren: In diesem Erziehungsklima, in dem die Kinder «keine Luft zum freien Leben, zum lauten Spiel, zum Raufen und Streiten und Sich-Vertragen bekommen, werden sie natürlich nicht friedfertig und leise, sondern unruhig». Noch drastischer schildert die Erziehungswissenschaftlerin Astrid von Friesen in einem Radiobeitrag die Situation der überwachten Kinder: «Sie sind isoliert, in einer echolosen Welt, schlimmstenfalls wie in der Gummizelle.» Natürlich, sagt sie, «ist das Leben voller Risiken, aber wir müssen sie meistern, nicht künstlich vermeiden».
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25/11/11