Auch ein Vierteljahrhundert nachdem die Spielkonsole ihren Siegeszug durch hiesige Stuben startete, bleibt Nintendos Latzhosenträger der Liebling der globalen Game-Gemeinde.
Wissen Sie noch, was Sie sich vor 20 Jahren zu Weihnachten wünschten? Nein? Wir schon: Denn zumindest falls Sie damals schon mal mit einem Joystick hantiert hatten, lautet die Antwort sehr wahrscheinlich: Das Spiel, worin ein aufgestellter, italienischer Klempner die Welt erobert.
Und dies im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Denn kaum etwas bestimmte 1992 den Weihnachtseinkauf so sehr wie «Super Mario World», jenes Videogame, das in besagtem Jahr nach Asien und Amerika endlich auch in Europa erschien, dem Super Nintendo damit zum weltweiten Durchbruch verhalf – und in seiner Wirkung bis heute unerreicht bleibt.
Begleiter einer ganzen Generation
Natürlich hatte der Siegeszug der Game-Kultur eigentlich schon viel früher begonnen. Mit «Pong» (1972), dem ersten analogen Videospiel, das aus zwei verschiebbaren Balken und einem (springenden) Punkt bestand. Mit «Pacman», der zur popkulturellen Referenzgrösse aufstieg, lange bevor aufwendigere Arcade-Games wie «Donkey Kong» die Spielhallen eroberten.
Und schliesslich mit dem Launch des Nintendo Entertainment Systems (NES) 1985, als Videospiele via «Famicom» (Family Computer) erstmals grossflächig in die globalen Stuben einzogen – ein Heimspiel, das die Ära des «Home Gaming» einläutete, bis der portable Gameboy kurz darauf 1990 sowieso zum steten Begleiter einer ganzen Generation wurde.
Wie ad hoc allerdings die ersten internationalen Schritte des in Japan entworfenen hüpfenden Klempners tatsächlich verliefen, wie weit entfernt von der heutigen, bestens vernetzten, globalen Gamer-Community die ersten Erfolge seiner «Super Mario Brothers» damals noch waren, illustriert die folgende Anekdote: Nach dem überraschenden Erfolg des Erstlings verlangte der US-Markt vor einem Vierteljahrhundert nämlich nach einem raschen Mario-Nachfolger.
Traumfabrik: Herzklopfpanik
Der in Japan damals bereits erhältliche Zweitling schien Nintendo USA aber für den amerikanischen Durchschnittsspieler zu schwierig. Also adaptierte man das bewährte japanische Game «Yume Kōjō: Doki Doki Panic» (zu deutsch: «Traumfabrik: Herzklopfpanik») für die USA und taufte es in «Super Mario Bros 2» um – mit Erfolg.
Dennoch wurde der Nintendo noch nicht zum globalen Kassenschlager – zu teuer und zu limitiert schien die 8-Bit-Maschine. Erst das komplett überarbeitete Upgrade markierte den endgültigen Durchbruch – und mutierte unter dem Namen Super Nintendo (SNES) weltweit zur Traummaschine einer ganzen Generation. Plötzlich wurde der Begriff «Konsole», abgeleitet von den lateinischen Wörtern «Träger» («Vorsprung, der einen Baustein trägt») und «Tröster, Unterstützer», zum Inbegriff interaktiv programmierten Computervergnügens – und der kleine Klempner zur Spielfigur jenes Quantensprungs der Superlative.
Als erstes und einzig mitgeliefertes SNES-Spiel symbolisierte «Super Mario World» den Aufbruch zu neuen, unbekannten Ufern – und zu ungeahnten Erfolgen: Kein Wunder, hatte Shigeru Miyamoto, der neben Mario auch das Kult-Rollenspiel «Zelda» kreierte, mit einem 16-köpfigen Team doch drei ganze Jahre lang an diesem Meilenstein gearbeitet, der in seinem Einfallsreichtum alles Bisherige in den Schatten stellte: Bis heute gehört «Super Mario World» zu den beliebtesten Videospielen aller Zeiten.
Liebenswerter Underdog
Doch was liess das Spiel damals zum grössten Videogame überhaupt werden? Die neu eingeführte 16-Bit-Technik samt detaillierter Grafik, die mehr Farben, höhere Soundqualität und komplexeres Leveldesign ermöglichte? Auch, aber nicht nur: Denn mit 50 Millionen verkauften Konsolen dis-tanzierte der SNES gleichzeitig auch den damals grafisch weit überlegenen Konkurrenten Sega Mega Drive, der trotz Kult-Spielen wie «Sonic The Hedgehog» niemals eine annähernd grosse Fanbase aufbauen konnte.
Glaubt man späteren Studien, war beim Erfolg des Jump-’n’-Run-Klassikers vielmehr die Identifikation der weltweiten Game-Gemeinde mit dessen Hauptfigur matchentscheidend: Der liebenswerte Underdog und (Anti-)Held, der mit seinem «besten Freund» und Gefährten, dem damals erstmals auftauchenden Dinosaurier-Reittier Yoshi, gegen das Böse kämpft.
Dass «Super Mario World» mit seiner simplen Moral, wonach es sich für Freundschaft und Liebe lohnt, alles aufs Spiel zu setzen, eigentlich eine urpädagogische Botschaft verbreitet, war zu jener Zeit, wo Computerspiele noch im Ruf standen, Epilepsie zu fördern, die Kreativität der Kindheit zu zerstören und eine ganze Generation zu verdummen, allerdings alles andere als Common Sense: Erst rückblickend scheint das Spiel angesichts einer ganzen Reihe weiterer Serien, denen 1992 ebenfalls der Durchbruch gelang – vom Ego-Shooter «Wolfenstein» über das Kampfspiel «Mortal Kombat» bis hin zum wegen seines oft unterstellten Suchtfaktors umstrittenen 3D-Rollenspiels «Ultima» – , fast märchenhaft friedlich und harmlos.
Kein X für ein U vormachen
Alles andere als harmlos waren dagegen die Auswirkungen des Erfolgsmodells Super Nintendo auf den noch jungen Konsolenmarkt: Die erbitterte Konkurrenz des Marktführers Nintendo zum stärksten Kontrahenten Sega, im Laufe der 90er-Jahre sukzessive abgelöst durch den nicht minder harten Zweikampf zwischen Sony Playstation und Microsoft Xbox, führte dazu, dass das gesamte Jahrzehnt unter dem unrühmlichen Titel «Console Wars» in die Game-Geschichte einging – gespickt mit aktenkundigen Sabotage-Akten und Manövern, die jeden Spionagethriller alt aussehen lassen.
Dass die Playstation zum Millenniumswechsel schliesslich vorerst als Gewinner gegenüber Xbox und Nintendo (ganz zu schweigen vom zunehmend abgeschlagenen Sega) hervorging, bestätigte bloss den von Nintendo bereits ein Jahrzehnt früher gesetzten Trend: dass sich keineswegs die leistungsfähigste Konsole durchsetzt, sondern diejenige mit den beliebtesten Spielen.
Anfang der Nullerjahre, als die erste Generation der Konsolen-Kids heranwuchs, liefen auf Teenies zugeschnittene Playstation-Games à la «Tomb Raider» oder «Grand Theft Auto» Marios heilen Märchenwelten zunehmend den Rang ab. Erst in den letzten paar Jahren konnte sich Nintendo mit dem dynamisch-beweglichen Konzept seiner bewusst familienfreundlich konzipierten Wii-Konsole zurückkämpfen – und mit 100 Millionen verkauften Konsolen (gegenüber Playstation 3 und Xbox 360 mit je 70 Millionen) wieder an die Spitze setzen.
Parallelwelt – oder blosser Zeitvertreib
Aber auch diese Hackordnung ist nicht in Stein gemeisselt, wie das jüngste Kapitel der Game-Geschichte zeigt. Denn mit dem Einzug des Web 2.0 erlebte die Branche soeben eine weitere Revolution, deren Ausmass bisher noch kaum abzuschätzen ist:
Entstanden im Netz zunächst ganze Parallelwelten wie «World of Warcraft» oder «Second Life», verbreiten sich nun via Social Media und Smartphones gerade wieder simple Zeitvertreib-Spielereien wie Facebooks «Farmville» oder Scrabble-Spiele exponentiell – und laufen damit den hochkomplexen Konsolen den Rang ab. Angesichts sinkender Verkaufszahlen und Massenentlassungen bei einstigen Vorzeige-Spielentwicklern wie EA (Electronic Arts) prophezeien immer mehr Experten bereits das nahe Ende des Konzepts Konsole.
«Die ersten Konsolen lösten eine Art Urknall aus – seither hat sich das Spiel-Universum in alle Richtungen ausgedehnt», bilanziert Thom Nagy, Social-Media-Stratege der NZZ und langjähriger Videogamer: «Mit ein wenig Fachwissen kann heute jeder Game-Freak sein eigenes Indie-Game kreieren und dieses via App vertreiben.» Wenig überraschend, dass mittlerweile auch viele Kultgames der Gründertage wieder als App erhältlich sind – und sich gerade dank Retro-Charme bestens verkaufen.
Renaissance des Videospielhelden
Und Mario? Hat der verlorene Sohn nach Dutzenden von Ablegern überhaupt noch eine Zukunft? Durchaus – wenn es nach Nintendo geht. Um das Weihnachtsgeschäft des vor wenigen Tagen neu lancierten Wii-Nachfolgers «U» anzukurbeln, verspricht Marios Mutterkonzern nämlich nicht weniger als die Renaissance des grössten Videospielhelden aller Zeiten: «New Super Mario Bros» soll Nintendos neue Konsole gegen die übermächtigen Gegner Netz und Handy-App zum Sieg führen. Doch kann das gut gehen?
«Super Mario World hat mich ruiniert. Bis heute habe ich vergeblich darauf gewartet, dass Nintendo diese Brillanz und Kreativität übertrifft», brachte das Game-Magazin «Joystiq» die erneute «Herzklopfpanik» unter Millionen gespannter Mario-Veteranen kürzlich auf den Punkt.
Und, wie macht sich nun der neue Tröster unseres lieben alten Seelenklempners? Siehe da: «Es ist zurück, dieses Gefühl eines Wunders», bejubelt «Joystiq» Nintendos neusten Wurf. Was eines beweist: Mario ist noch immer unbesiegbar – zumindest solange genügend Gamer bis zum Happy End mitspielen.
- Eine detaillierte Rezension der neuen «U»-Konsole folgt demnächst auf «Spieltrieb», dem Game-Blog des TagesWoche-Videospiel-Experten Stephan Herzog.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.12.12