Der deutsche Künstler Christoph Niemann (*1970) mag die Abwechslung: Er ist den New-York-Marathon gelaufen und hat dazu gezeichnet, er kreiert aus Alltagsgegenständen Fabelwesen und zeichnet fantastische Covers und Illustrationen für die renommiertesten Zeitschriften der Welt. Er liebt ausserdem Gummibärchen und die Reduktion auf das Notwendige.
Das Cartoonmuseum Basel widmet Niemann nun die erste grosse Schweizer Retrospektive, die TagesWoche hat ihn zum Gespräch getroffen.
Herr Niemann, wie wichtig ist Ihnen der Humor in Ihren Zeichnungen?
Der Grund, warum ich mit Humor arbeite, ist der, dass eine Kommunikation stattfindet. Fast jeder Witz baut eine Erwartung auf, mit der ich das Vertrauen des Lesers gewinne. Und dann enttäusche ich diese Erwartung auf eine sinnmachende Art, die der Leser aber nicht hat kommen sehen. Dieser Moment der Kommunikation ist ganz wichtig. Er kann im Lustigen stattfinden, aber die Witzigkeit ist nie das Gegenteil von Ernsthaftigkeit. Es geht also nicht darum, dass das Leben so lustig ist. Witz ist der Moment, wo der Leser aus der Reserve gelockt wird.
Wann wissen Sie, ob eine Bildidee funktioniert?
Meistens erst drei Tage später. Nur ist es so, dass ich bei der Arbeit für eine Zeitung mit einer Deadline von 90 Minuten nicht den Luxus habe, abzuwarten. Ich nehme mal an, dass man mich auch um drei Uhr nachts wecken könnte, und ich würde eine ordentliche Illustration zum Thema deutsche Bundesanleihen hinkriegen. Nicht weil es leicht ist, sondern weil ich es schon so oft gemacht habe. Aber um auf ein neues Level zu kommen, muss ich eine Idee auf Papier haben. Da passiert Unvorhergesehenes, vor allem aber entstehen neue Zusammenhänge. Dann wird es spannend.
Woher kommt Ihre Faszination fürs Zeichnen? Sind Sie familiär vorbelastet?
Nun, ein Grossvater von mir war Arzt und hat viel gezeichnet. Ein paar Verbindungspunkte gibt es schon, aber so unausweichlich war das nicht. Für mich war das Zeichnen schon immer die direkteste Form der bildlichen Kommunikation und viel näher am Schreiben als etwa die Fotografie. Wenn ich ein Smiley zeichne, erkenne ich das ja nicht, weil es aussieht wie ein Mensch, der lächelt. Sondern weil es ein Zeichen ist, das ich gelernt habe. Durch diese wahnsinnige Verdichtung kann ich mit ein paar wenigen Strichen ein ganzes Universum aufbauen. Die Zeichensprache ist eine Bildsprache, und das braucht eine Übersetzungsarbeit von beiden Seiten.
Zur Verständlichkeit Ihrer Zeichnungen gehört ein Stil, der sehr zeitlos wirkt. Was sind Ihre Einflüsse?
Alles, was mir gefällt, und das ist sehr viel. Prinzipiell schleicht sich natürlich ein bestimmter Stil in gewissen Bereichen ein, davon ist man nie frei. Im Idealfall würde ich gerne für jede Zeichnung einen neuen Stil verwenden, weil jede Idee eine eigene Sprache erfordert. Es gibt in der Ausstellung zum Beispiel ein Cover für «The New Yorker» zu den Olympischen Spielen, da sitzt ein griechischer Krieger vor dem Fernseher. Ich baue die Zeichnung auf der Formsprache antiker griechischer Kunst auf, weil ich davon ausgehen kann, dass der Betrachter das kennt. Stil und Idee müssen für mich immer zusammenarbeiten.
Sie haben elf Jahre in New York gelebt. Was hat Sie dorthin gezogen?
Während des Studiums wollte ich Praktika machen und mehr von der Welt sehen. Und da habe ich gemerkt, dass diese bestimme Art zu denken, das, was die Amerikaner «the big idea» nennen, von dort kommt: diese Verbindung von Text und Bild, die Covers und Cartoons, das Spiel mit Kultur in verdichteten Zeichnungen. Ich habe mir gedacht: Gut, dann ist das wohl die Stadt, wo ich hin soll. Natürlich ist New York nicht die leichteste Stadt, aber auftragsmässig war es schon super.
Mittlerweile leben Sie in Berlin. Hat der Grossstadtwechsel auch Ihre Arbeitsweise beeinflusst?
Ja. In New York habe ich in einem sehr strengen redaktionellen Kontext gearbeitet, da geht es um Verlässlichkeit, das Einhalten der Deadline ist das Allerwichtigste: Ordentliche Arbeit pünktlich abliefern macht 98 Prozent des Jobs aus. Und wenn dreimal im Jahr etwas speziell Schönes dabei herauskommt, ist das wunderbar. Das war eine fantastische Schule und hat mich sehr geprägt. Mit dem Umzug nach Berlin habe ich angefangen, meine eigenen Dinge zu machen, ohne Auftrag. Das fand ich zunächst extrem belastend, man ist sich seiner Unfähigkeiten plötzlich sehr bewusst. Ich habe aber auch gemerkt, dass gute Sachen passieren, wenn ich mich freier mache.
Hilft bei der Angst vor dem weissen Papier das Wissen um die eigenen Fähigkeiten weiter?
Nein, man sitzt da und kann schon tausend Sachen gemacht haben, aber dadurch wird es kein Stück leichter. Die einzige Form von Talent, die ich dann gelten lasse, ist die Fähigkeit, mit dieser Frustration umzugehen. Dass ich auch nach dem hundertsten Mal zeichnen noch immer Lust darauf habe und nicht sage: Ach, das ist mir jetzt zu anstrengend.
Macht das dann noch Spass?
Nö. Es ist erfüllend, aber ich habe dabei kein Grinsen im Gesicht. Das Glück kommt am Schluss, wenn dabei etwas Gutes entsteht. Auch wenn ich es nicht als Talent bezeichnen würde, habe ich mittlerweile Ehrfurcht vor diesen goldenen Momenten: An manchen Tagen passiert etwas, was ich vielleicht nie wiederholen kann.
Sie haben drei Kinder, zeichnen die auch?
Ja, die zeichnen auch, jedes anders und ganz verschiedene Sachen. Aber ich pushe sie nicht, das bringt gar nichts. Ermutigen ja, und Papier und Stifte hat es immer. Daran soll es nicht liegen.
Ihre Frau ist Kunsthistorikerin. Sprechen Sie mit ihr auch über Ihre Arbeit?
Ja, klar. Ich unterhalte mich sehr viel mit ihr darüber, wie ein Bild funktioniert oder nicht. Bei Fragen der Bildidee gibt es bei uns grosse Überschneidungen, gleichzeitig haben wir aber auch unsere eigenen Bereiche. Wir sind also nicht zu deckungsgleich.
Gibt es Momente bei einer Auftragsarbeit, wo Sie persönlich sagen würden: Jetzt ist es Kunst?
Das mag es geben, aber im Moment des Kreierens ist das absolut irrelevant. Es stellt sich ja auch die Frage, ob Kunst nur ohne Auftrag und Illustration immer mit Auftrag sein muss. Das würde nämlich bedeuten, dass die Mona Lisa oder die Sixtinische Kapelle «nur» Illustration sind. Mir ist viel wichtiger, ob ein Bild für mich und den Betrachter eine zweite Ebene erhält, ein Stuhl plötzlich mehr ist als ein Stuhl oder eine politische Illustration eine Türe links und rechts vom grossen Tor öffnet, das vor einem steht. Und das ist zum Glück nicht planbar, das passiert mit Glück.
In den «Sunday Sketches» experimentieren Sie mit Alltagsgegenständen, die Sie zeichnerisch erweitern. Haben Sie manchmal Lust, selbst in die dritte Dimension zu gehen und Objekte zu gestalten?
Ich finde es auf jeden Fall interessant und es wird bestimmt in irgendeiner Form passieren. Was mich noch zurückhält, ist die Abstraktion. Selbst die «Sunday Sketches» sind ja fotografisch verflacht, die Bananen als Pferdehintern funktionieren nur gerade aus einem Blickwinkel. Sobald ich skulptural arbeite, muss das Bild von allen Seiten funktionieren, und dann verlässt es die Ebene des Zeichens: Ein Smiley kann man nur von vorne anschauen, wenn ich es aus der Zweidimensionalität herausnehme, ist es kein Smiley mehr. Das erfordert ein komplettes Neudenken der Bild- und Textsprache.
Was zeichnen Sie ungern?
Da gibt es vieles, Porträts und Karikaturen sind wahnsinnig schwierig. Eine menschliche Form hinzukriegen ist die eine Sache, ein Gesicht mit Ausdruck eine andere. Dann noch so zu zeichnen, dass jemand anderes das Gesicht erkennen kann – das sind Formen der Komplexität wie bei einem Artisten, der drei Saltos schlägt und dazu singt und jongliert. Aber das ist natürlich eine Frage der Übung. Bei mir gehen nur dann die Alarmglocken an, wenn ich merke, wie ich davongetragen werde bei der Lösung rein formaler Probleme und das Bild als Ganzes nicht mehr im Vordergrund steht. Obwohl das als zeichnerische Übung natürlich ganz wichtig ist.
Weil man sich zwar verrennt, dabei aber Ausdauer übt…
Richtig. Wenn ich einen Baum mit drei Strichen und fünf Flecken male, basiert das auf einem Baum mit zwanzigtausend Ästen und hunderttausend Blättern. Deshalb muss ich mich manchmal auch mit den zwanzigtausend Ästen befassen, damit diese Dichtheit im Bild enthalten ist. Diese Simplizität ist ja nicht einfach, sondern eine Reduktion des Komplexen.
Und was zeichnen Sie am liebsten?
Das Zeichnen selbst hat viel mit Konzentration zu tun. Aber wenn es um Arbeitsmaterialien geht, einen neuen Block aufzumachen… Also, so schwarze Tusche auf weissem Papier, das ist schon sexy. Und das nützt sich auch nicht ab. Knallschwarze Tusche auf einem Papier, das mit so viel Autorität dasteht, wo ich denke, da kann einer ein hundertstöckiges Haus bauen, das hat nicht so viel Lautstärke wie zwei schwarze Striche – das ist schon Wahnsinn!