Verhalten ausgelassen

Der Auftritt der Jazzlegende Lionel Hampton im Basler Stadtcasino im Januar 1958 entsprach einem starken Bedürfnis der Zeit: jenem nach Neuem und Modernem.

Da ging man noch mit Kittel, Hemd und Krawatte ans Jazzkonzert: Das Publikum beim Auftritt von Lionel Hampton im Januar 1958 im Stadtcasino. (Bild: Kurt Wyss)

Der Auftritt der Jazzlegende Lionel Hampton im Basler Stadtcasino im Januar 1958 entsprach einem starken Bedürfnis der Zeit: jenem nach Neuem und Modernem.

Die Hauptsache des hier abgebildeten Ereignisses, könnte man sagen, ist ja gar nicht auf dem Bild, nämlich der starke Fixpunkt, auf den die abgebildeten Menschen gebannt blicken. Wenn man diese Hauptsache sähe, wäre das in diesem Fall allerdings eine schwache, weil nicht zugleich auch akustische Präsenz: Lionel Hampton. Wie der berühmte US-amerikanische Jazzmusiker ausgesehen hat, ist bei der Musik, die er gemacht hat, Nebensache.

Friedlich und heiter

Nicht den Spezialisten, aber dem allgemeinen Publikum muss man heute erklären, wer Lionel Hampton gewesen ist. Im Januar 1958, als diese Aufnahme im Musiksaal des Basler Stadtcasinos gemacht wurde, war dies nicht nötig. Hampton, damals bereits seit drei Jahrzehnten auf den Bühnen der Welt, war ins­besondere auf dem Vibrafon ein Star, und seine Musik entsprach einem starken ­Bedürfnis der Zeit. Dem Bedürfnis nach Anderem, nach Neuem, nach Modernem, nach ­Alternativem. Das Bedürfnis mag bei jedem Einzelnen vorhanden gewesen sein. Doch in der gleich­gestimmten Gruppe und bei dieser Musik liess es sich besser ausleben: in fried­licher und heiterer Ausgelassenheit.

Dieses Bedürfnis wurde in der Welt der Töne und Rhythmen zuerst ausgelebt. Ganz ­offensichtlich noch gar nicht in der Art, sich zu kleiden. Auffallend viele tragen Kittel, weisse Hemden und Krawatten. Aber ihre Körper ­suchen Anschluss an die Musik, gehen mit ihr eine Gemeinschaft ein. Nicht so einfach zu ­beantworten ist die Frage, warum es mehr Männer als Frauen im Publikum hat.

Die Körper suchen Anschluss an die Musik, gehen mit ihr eine Gemeinschaft ein.

Aber alle sind sie in einem Alter, das man als jugendlich bezeichnen kann, zumal sie sich «jugendlich» verhalten: exaltiert, viele den Mund zum Schrei geöffnet, die Hände in die Höhe gereckt. Am unteren Bildrand, etwas einsam und brav, aber doch dabei, ein besonders jung wirkender Mann: Markus Mohler, der später, nach dem Jus-Studium und einer Akademieausbildung in den USA, Polizeikommandant von Basel-Stadt werden sollte.

Ein knappes Jahrzehnt später (im April 1967) hätte der Fotograf andere Bilder festhalten können: einen Berg zertrümmerter Stühle, allerdings nicht in Basel, sondern in Zürich, nicht bei Lionel Hampton, sondern bei den Rolling Stones, begleitet von einem harten Polizeieinsatz. Dies nach einem kulturellen Sprung vom Jazz, der trotz seiner unklassischen Art eine hochdisziplinierte Musik und kaum auf elektronische Verstärkung angewiesen ist, in eine Musik, die mit ihren wuchtigen Megatönen in ebenfalls kunstvoller Weise barbarisch sein wollte und dem Publikum die ersehnte Überwältigung bot.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.03.13

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