Mit dem «wandernden Wesen» sind nicht in erster Linie die Sommerfrischler gemeint, die derzeit über Fluren und Auen schreiten. «Homo migrans» ist der Mensch schlechthin, dies zu fast jeder Jahreszeit. So ist er von seinen Anfängen aus Afrika «zu uns» gekommen, wo wir noch gar nicht hier waren – in Europa.
Das Schweizerische Landesmuseum erinnert daran in seiner Dauerausstellung mit dem lapidaren und inzwischen recht häufig wiederholten Satz: «Niemand war schon immer hier.» Diesen Satz finden wir auch in dem Buch, das hier anzuzeigen und Ausgangspunkt für ein paar zusätzliche Überlegungen ist – eine kürzlich erschienene «Schweizer Migrationsgeschichte». An ihr ist der Basler Historiker Patrick Kury beteiligt, der auch eine leitende Stellung in der ebenfalls kürzlich auf den Weg gebrachten «Basler Geschichte» innehat.
Schon die allererste «Schweizer Geschichte» stellte Einwanderungsvorgänge an den Anfang.
Es ist eine Geschichte «von den Anfängen bis zur Gegenwart». Wenn man bis zu den Anfängen zurückblickt, kann der Gedanke aufkommen, dass es das «Schweizervolk» gar nicht gäbe, wenn nicht eingewandert worden wäre. Die ersten Einwanderer sahen sich allerdings noch nicht mit einer bereits etablierten Ordnung konfrontiert, die schon zuvor Eingewanderte mit guten und weniger guten Gründen schützen wollten.
Das Buch macht gleich zu Beginn einen guten Punkt, wenn es darauf hinweist, dass die allererste «Schweizer Geschichte», nämlich das Weisse Buch von Sarnen aus der Zeit um 1470, noch vor der Tell-Geschichte Einwanderungsvorgänge an den Anfang stellt: Einwanderung unter der Obhut der Römer und Einwanderung aus Schweden.
Ohne den Umstand, dass in unseren Tagen das Thema Migration weit oben auf der politischen Agenda steht, würde uns dieses Buch wenig interessieren – und wäre es wohl kaum geschrieben worden. Warum aber soll uns die historische Dimension eines Phänomens interessieren, das uns in der Gegenwart beschäftigt?
Geht es darum, dass wir aus der Geschichte lernen können? Es gibt das der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zugeschriebene Wort, dass die Geschichte sehr wohl Lehrmeisterin sei, leider aber in ihrem – imaginären? – Klassenzimmer keine Schüler und Schülerinnen sässen. Die Geschichte selbst kann diesbezüglich überhaupt nichts. Es kommt darauf an, was wir mit ihr machen.
Zurück und wieder vorwärts
Wenn wir in die Geschichte blicken, tun wir es gerne mit zwei unterschiedlichen und doch letztlich gleichen Blicken. Wir wollen zur Kenntnis nehmen, wie alles – bezogen auf unsere Gegenwart – ganz anders oder frappant gleich oder mindestens ähnlich gewesen ist. Eben mit der Feststellung, dass der Mensch schon immer gewandert ist.
Oft können wir feststellen, dass es eine Mischung von beiden, von Gleichem und Ungleichem, ist. Was haben wir davon? Wenn wir von der Gegenwart in die Vergangenheit gehen (oder wandern) und von da wieder zurück oder vorwärts in die Gegenwart, steigert das mindestens unsere Fähigkeit, weitergehende Überlegungen anzustellen.
Diese Überlegungen sollten allen Aspekten des Migrationsphänomens gelten: Nicht nur der uns bedrängenden Frage, wie wir mit Einwanderung «fertigwerden», sondern mit den Migrationsursachen (den allgemeinen Strukturen und individuellen Motiven und Entscheidungen), dann den Migrationswegen und auf der Ankunftsseite auch den Haltungen der Behörden und der verschiedenen Teile der Gesellschaft.
Alles kann dieses Buch nicht ausführen. Seine Angaben bieten aber Anlass zu weiteren Überlegungen, insbesondere zur Frage, ob und inwieweit Migration steuerbar ist. Und zur Frage, in welchem Mass Behörden den gesellschaftlichen Reaktionen bloss Rechnung tragen, diese sogar vorwegnehmen oder weitgehend unbeachtet lassen. Die grausame Grenzschliessung von 1942 ist gegen starken Widerstand der mitfühlenden Bevölkerung erfolgt, sie dürfte aber schon mittelfristig leider deren Zustimmung erfahren haben.
Die Hugenotten unterschied man in «echte» Glaubensflüchtlinge und von «geltgir» geleitete Migranten.
Das vorliegende Buch ist eine gute Gesamtdarstellung, die auf bereits geleisteten, aber oft disparaten Studien beruht. Der vom Erlebnis der Gegenwart mitgeprägte Blick fällt mitunter auf Gegebenheiten, die bisher wenig beachtet worden sind. In der Darstellung der an sich bekannten Hugenotten-Einwanderung des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts wird, was ebenfalls bereits bekannt ist, auf die Konkurrenzängste der Einheimischen hingewiesen.
Wenig beachtet ist bisher aber geblieben, dass die Bewältigung des damaligen Flüchtlingsproblems einen Bürokratisierungsschub generierte und zur Schaffung von Spezialkammern führte. Sie nahmen die Registrierung und Verteilung der Flüchtlinge vor, entwickelten Unterstützungskriterien und versuchten so zwischen «echten» Glaubensflüchtlingen und bloss von «geltgir» geleiteten Migranten zu unterscheiden. (S. 108ff)
Die Migrationsregime sind aus heutiger Sicht vor allem Begrenzungsregime. Es gab aber immer wieder Zeiten, da wollte man potenzielle Zuwanderer sogar anlocken, im Mittelalter mit Bürgerrechten, in der neueren Zeit vor allem mit guten Löhnen. In den 1950er- und 1960er-Jahren stand die Schweiz in harter Konkurrenz mit Arbeitgebern anderer Länder (insbesondere Deutschlands). Da wurde nicht gewartet, bis Migranten von sich aus kamen, sondern im Ausland direkt angeworben.
Migration als Etappenwanderung
Ebenfalls der aktuellen Sensibilisierung geschuldet dürfte die Hervorhebung sein, dass Zugewanderte bloss den Status von Bürgern minderen Rechts erhielten oder politisch völlig rechtlose Hintersassen wurden, selbstverständlich aber die üblichen Steuern zu bezahlen hatten. Die «Ausschaffung» dürfte ebenfalls ein erst später aufgekommener Begriff dafür sein, dass einem zunächst geduldeten Aufenthalt ein Ende gesetzt wird. Im Fall der Hugenotten zeigte sich, was häufig zu beobachten ist: Bei Preisgabe oder Verlust von Dauerdomizilen wird Migration oft zur Etappenwanderung.
Leicht vergröbernd kann man sagen, dass lange Zeit die Auswanderung in der schweizerischen Migrationsforschung das Hauptthema war. Da ging es um «Eigene», die das Land verlassen wollten – oder mussten. Ergänzend wäre darauf hinzuweisen, dass es Zeiten gab, in denen man nicht einfach auswandern durfte, weil dies als Verlust der nationalen Substanz verstanden wurde. Im 19. Jahrhundert förderten dann manche Gemeinden die Abschiebung von armengenössigen Mitbürgern.
Die Einwanderung war in der Geschichtsschreibung selbst in Zeiten, da die Schweiz faktisch bereits Einwanderungsland war, lange kein Thema. Mit der Einwanderungsabwehr der 1960er-Jahre begann sich das zu ändern. Nicht zufällig kam im Zuge der Schwarzenbach-Initiative 1969 die Dissertation von Rudolf Schlaepfer heraus, die daran erinnerte, dass bereits vor 1914 eine ähnliche (Viel-) Zahl von zugezogenen Arbeitskräften in der Schweiz gelebt hatte.
Bis 1988 durfte der Ehemann gegen den Willen seiner Gattin den Wohnsitz festlegen.
Grundsätzlich sollten Flucht- und Arbeitsmigration auseinandergehalten werden, auch wenn sich die beiden Realitäten oft überlappen. Schon früh war von der Schweiz als Insel für Asylsuchende die Rede, sekundär dann auch, in welchem Mass die Schweiz diesem idealen Bild nicht entsprach.
Unter Migration wird in der Regel ein Überschreiten von Grenzen verstanden. Dabei wird gerne übersehen, dass es auch Binnenmigration gibt ohne Überschreitung nationaler Grenzen. Da interessiert die Frage, wie weit regionale und kantonale oder auch «nur» kulturelle Grenzen, Sprachgrenzen oder die bei der heutigen Durchmischung weniger wichtigen Religions- und Konfessionsgrenzen überschritten wurden.
Das nun vorliegende Buch beachtet auch die kleinräumige Wanderung vom Land in die Stadt (allerdings nicht diejenige in umgekehrter Richtung), die saisonale Wanderung, Heirats- und Erbfolgemigration und anderes mehr. Und es geht immer wieder auf die Frage ein, ob geschlechtsspezifische Unterschiede in der Migrationspraxis zu beobachten sind. Es erinnert auch daran, dass der Ehemann bis 1988 gegen den Willen seiner Gattin den Wohnsitz festlegen durfte.
Eine vornehmlich positive Sicht
Es erstaunt nicht, dass das Buch alles in allem eine positive Sicht auf die Migration vermittelt. Positiv könnte im 19. Jahrhundert die Emigration von «überschüssiger» Bevölkerung gewesen sein. Positiv sei aber vor allem die Immigration in die Schweiz zu bewerten. «Ohne die Investitionen – in Bildung, Kapital, Einfallsreichtum und soziale Bindungen – von Zugewanderten wären viele Entwicklungen, die das Land zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt gemacht haben, kaum denkbar.» (S. 355)
In manchen Passagen spürt man die Handschrift eines der Autoren, nämlich des Berner Historikers André Holenstein, der 2014 der «Verflochtenheit der Schweiz mit der Welt» bereits eine eigene Publikation gewidmet hat, die seinerzeit in diesem Medium besprochen wurde.
Dabei stösst man auf den frappanten Beleg, dass die Ovomaltine, das berühmte schweizerische Nationalgetränk, von der aus Deutschland eingewanderten Familie Wander entwickelt und auf den Markt gebracht wurde.
In den letzten Abschnitten des Buches, denen hier auch die letzten Zeilen gewidmet sein sollen, wird zum einen gesagt, dass die Geschichte der Migration keinesfalls an ihr Ende gekommen sei und auch in Zukunft noch genug Stoff der historischen Migrationsforschung zufallen wird.
Zum anderen wird bezüglich der Überfremdungsängste gesagt, dass diese individuell zwar nachvollziehbar seien, «vor dem Hintergrund kollektiver Erfahrungen auf der Ebene der ‹longue durée› aber unverhältnismässig. (…) Eine Nation, die derart auf der Integration verschiedener Kulturgemeinschaften beruht (…) sollte den Herausforderungen der Migrationsgesellschaft relativ selbstbewusst und gelassen entgegensehen.» (S. 359)
André Holenstein, Patrick Kury, Kristina Schulz: Schweizer Migrationsgeschichte – Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Baden: Verlag Hier und Jetzt, 2018. 384 Seiten.