Vorfahrt für den Fortschritt

Als der Glaube an den wachsenden Autoverkehr noch ungebrochen war, wurde in den Basler Vorstädten manch alte Bausubstanz einer breiteren Strasse geopfert.

Spuren eines Dachstocks an der Seitenwand des früheren «Drachen» in der Aeschenvorstadt. (Bild: Kurt Wyss)

Als der Glaube an den wachsenden Autoverkehr noch ungebrochen war, wurde in den Basler Vorstädten manch alte Bausubstanz einer breiteren Strasse geopfert.

Auch der Fotograf, ja insbesondere der Fotograf, stand damals unter dem Eindruck des rasanten Wandels. Er konnte – im Prinzip – nur fotografieren, was da und sichtbar war.

Hier ist es Kurt Wyss in der Basler Aeschenvorstadt gelungen, etwas festzu­halten, was am Weggehen und schon beinahe nicht mehr da war: das ehemalige Nachbarhaus eines damals ganz modernen Gebäudes, des «Drachen».

Das moderne Nachbarhaus ist inzwischen auch schon wieder verschwunden. Es musste einem anderen «Center» Platz machen, obwohl die staatliche Denkmalpflege 2005 dieses Werk einer einmal modern gewesenen Architektur schützen wollte, weil es ein exemplarischer Bau ­eines frühen City-Hauses war, ­einer «Stadt in der Stadt» als Kombination von überdachten Ladenpassagen mit Tiefgarage und Hotel, Büros und Wohnungen.

Das Schicksal der Aeschenvorstadt ist Musterbeispiel einer Fehlplanung.

Dem anonymen Nebenhaus ist es vor seinem Abriss gleichsam gelungen, noch schnell einen Abdruck seiner Dachstockstruktur zu hinterlassen: auch eine Geometrie, aber eine andere als diejenige des schon neuen Nebenhauses. Die Kabel der Strassenbahnleitung und der Strassenbeleuchtung verbinden die beiden Zeitzonen und legen in das Bild eine zusätzliche Struktur.

Ja, auch hier geht es nicht nur um Häuser, sondern um die dazu gehörende Strasse. Um eine, die in diesem Fall einmal eine Vorstadt war, welche den inneren Stadtring (Alban­graben) mit dem äusseren Stadtring (Aeschengraben) verband und in den 1950er-Jahren eine breite Ausfallstrasse werden sollte.

Mit fragwürdigen Mitteln wurden fragwürdige Ziele verfolgt.

Das Schicksal der Aeschenvorstadt ist ­Musterbeispiel einer Fehlplanung: Mit fragwürdigen Mitteln wurden fragwürdige Ziele verfolgt. Alte Bausubstanz wurde für eine ­Kapazität des Strassenverkehrs geopfert, wie man sie heute unbestrittenermassen gar nicht benötigt.

Diese zusätzliche Verkehrskapazität wollte man haben, weil man davon ausging, dass sie eine unerlässliche Voraussetzung für ein ­blühendes Geschäftsleben sei, während heute bei dieser Art von Strasse eher eine Fuss­gängerzone diese Voraussetzung bildet und der Durchgangsverkehr diesbezüglich eher negativ wirkt.

Der historische Fehlentscheid wurde vom Volk, das bekanntlich immer recht hat, 1953/54 nach leidenschaftlichem Abstimmungskampf in zwei Entscheiden gutgeheis­sen. Der erste war allerdings bloss ein Zufallsmehr von 50,8 Prozent für den «Fortschritt» und ­gegen das «Herkommen».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.05.13

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