Die SVP verlangt viel mehr Polizei, weil die Stadt immer unsicherer werde. Doch die Sache ist komplizierter. Basel kann zwar auch brutal sein, steht im Vergleich zu anderen Städten aber gut da. Offenbar passen solche Tatsachen aber längst nicht allen ins Konzept.
Basel brutal. Im «Schwarzen Bären» an der Rheingasse geraten zwei Männer in Streit. Die Worte werden lauter. Und schärfer. Es geht um eine Frau, und wahrscheinlich liegt der ganzen Auseinandersetzung eine Verwechslung zugrunde, aber das merken die beiden Männer nicht, dafür sind sie schon zu sehr in Rage. Irgendwann springt der eine auf den anderen zu, dieser knallt sein Bierglas auf den Tisch und schlägt dem Angreifer den zersplitterten Becher auf Kopf und Arm; dabei reisst er ihm die Pulsader auf.
Als Wachtmeister Dölf Hofer ins Lokal stürmt, sieht er erst einmal nur Blut, viel Blut. Doch er ist erfahren genug, um zu wissen, was zu tun ist. Hofer reisst die beiden Rasenden auseinander und nimmt den Mann mit dem zersplitterten Becher fest. Während ein Arzt den Verletzten versorgt, lässt er die Rheingasse sperren, damit keine weiteren Passanten mehr die Spuren des Grauens zu sehen bekommen. Nach dem Einsatz wechselt er erst einmal das Hemd.
Beizen-Gäste fliegen von der Empore
In der Erinnerung lässt sich das viele Blut, das Hofer in seinen 36 Dienstjahren gesehen hat, nicht so einfach abstreifen. Wenn der einstige Kleinbasler Vorzeigeschugger von den 70er-, 80er- und 90er-Jahren erzählt, von Mord und Totschlag und Selbsttötungen, dann schiessen manchmal sogar ihm, dem alten Haudegen, Tränen in die Augen. «Ich habe viele schlimme Sachen gesehen, sehr schlimme sogar», sagt er. Im Gegensatz dazu scheinen ihm die häufigen Wirtshauskeilereien schon fast Vergnügen bereitet zu haben. «Es ist immer etwas gelaufen», sagt Hofer und lächelt. Übertrieben ist seine Aussage nicht. Im legendären Bierkeller an der Ochsengasse zum Beispiel flogen nicht nur Gläser, Stühle und Geländer von der Empore, sondern manchmal auch Gäste.
Basel war schon immer auch brutal, das wird einem sehr bald klar, wenn man sich mit Hofer unterhält. Dennoch ist die Gewalt heute mehr denn je ein Thema. Die Politiker debattieren ständig darüber, die Medien berichten gross – und immer wieder hört man von Baslerinnen und Baslern, die sich nachts nicht mehr auf die Strasse trauen.
Was ist bloss los in dieser Stadt?
An der Zahl der Delikte kann die Angst nur bedingt liegen. Diese ist nach einem deutlichen Anstieg der Anzeigen zwischen 1970 und 2000 um rund 75 Prozent schon seit Jahren ziemlich konstant. Den einzelnen Opfern von Schlägereien, Überfällen und Gewaltexzessen nützt diese Gewissheit allerdings wenig. Sie leiden, teilweise ein Leben lang, wie Theresa Stucki, die im November 2009 zusammen mit ihrem Partner scheinbar grundlos zusammengeschlagen wurde und seither traumatisiert ist.
Gefährliche Situationen gibt es vor allem freitags und samstags: in den frühen Morgenstunden, wenn in den Clubs und auf den Strassen viele «sternhagelvoll» und «vollgepumpt mit Drogen» sind. Das sagt jedenfalls der Basler Polizist, nennen wir ihn Tom Schweizer, der seit knapp 20 Jahren im Dienst ist. In dieser Zeit hat er einiges erlebt, und er spricht auch gerne darüber, aber nur unter der Bedingung, dass er in der Zeitung nicht unter dem richtigen Namen genannt wird. Klare Worte kommen bei den Kollegen, dem Kommando und dem Sicherheitsdepartement nicht unbedingt gut an. «In der alkoholgeschwängerten Atmosphäre reicht ein falscher Blick, ein falsches Wort, und schon knallt es.» Manchmal werden per Handy auch noch Freunde und Freundesfreunde aufgeboten – und das Ganze entwickelt sich zur Massenkeilerei. «In solchen Momenten wird es für uns schwierig, den Überblick zu wahren», sagt Schweizer. «Teilweise lässt sich nicht mehr richtig feststellen, wer das Opfer und wer der Täter ist.»
Es ist nicht mehr wie früher, als die Fronten noch klar waren und im Bierkeller die Eisenleger an einem Wochenende die Matrosen verdroschen und sich diese eine Woche später am gleichen Ort zu revanchieren versuchten, bis der Hofer Dölf oder einer seiner Kollegen vom Claraposten auftauchten und mit ein paar klaren Worten erstmal wieder für Ruhe sorgten.
Die neue Kampfzone – gross und unübersichtlich
Die Kampfzone ist seither sehr viel grösser geworden, unübersichtlicher auch. Wie das Nachtleben hat sie sich nach draussen verlagert, raus aus den Beizen, auf Strassen und Plätze. Nun wird dort gebechert, gefeiert und auch mal zugeschlagen. So geht das die ganze Nacht hindurch. In einzelnen Bars endet die After-Party erst am Mittag. «Das alles läuft ohne Anfang und Ende, und dabei kann man sich die meiste Zeit erst noch in den Shops mit billigem Alkohol eindecken», sagt Schweizer. «Eine Folge davon ist, dass es auch um vier Uhr morgens noch betrunkene Dreizehn- und Vierzehnjährige auf den Strassen hat.»
Für die Polizei bedeutet das viel Arbeit. Und viel Ärger. Schweizer wird regelmässig bedrängt, beschimpft und bespuckt, wie er sagt. Er spricht von einer «zunehmenden Respektlosigkeit» und einer «allgemeinen Verrohung». Schuld daran seien vor allem «die Ausländer». Weniger noch jene, die hier leben, als vielmehr die Asylsuchenden aus dem Bässlergut und die Maghrebiner aus dem Elsass, die hier ihre Wochenenden verbringen. So oder so ähnlich äussern sich viele über «die Ausländer», nicht nur im Polizeikorps, sondern auch ausserhalb.
SP-Grossrat Daniel Goepfert bricht das Tabu
Das macht das Thema heikel. Es droht rasch einmal der Rassismusvorwurf. Die meisten Linken sprachen darum lieber über anderes, so gut und so lange es eben ging. Gebrochen wurde das Tabu erst vor wenigen Monaten von SP-Grossrat Daniel Goepfert, der in der TagesWoche offen über Ausländergewalt sprach und wenig später mit einem Vorstoss zusätzliche Fusspatrouillen verlangte. In seiner Partei kam er damit nicht nur gut an. Wenn einige SPler etwas nicht wollen, dann ist es mit der SVP gemeinsame Sache zu machen, gerade in dieser Frage.
Diese abwehrende Haltung ermöglichte es der Rechtsaussen-Partei lange, so zu tun, als kümmere nur sie sich um die Sorgen des Volkes. Wegen der rot-grün dominierten Regierung sei Basel nicht mehr sicher, sagte SVP-Präsident Sebastian Frehner im Grossen Rat. Sie hindere die Polizei, ihren Auftrag zu erfüllen und «für Sicherheit zu sorgen».
Darum hat die Basler SVP die «Initiative für einen sicheren Kanton Basel» lanciert. Darin fordert sie, dass die Polizei ihre Präsenz vor allem in den Wohnquartieren um 40 Prozent verstärkt. Dafür müssten bis zu 120 zusätzliche Polizisten angestellt werden. Am 5. Februar stimmt Basel über die Sicherheitsinitiative ab.
Schlecht sind die Aussichten der SVP nicht, nachdem ihr die «Basler Zeitung» und Telebasel in den vergangenen Monaten mehr oder weniger systematisch Schützenhilfe geleistet haben. Das Lokalfernsehen mit einzelnen reisserischen Berichten und Reportagen zum Thema Gewalt, die Regionalzeitung mit einem publizistischen Sperrfeuer. Seit das Blatt in rechtskonservativen Händen ist, sind viele Mittel recht, um die SVP-Theorie zu stützen, wonach Basel immer gefährlicher werde.
Da werden Fakten gebogen, aufgebauscht oder auch mal weggelassen, je nach Bedarf. Wenn einige versprengte Linksautonome die brachliegende Voltamatte besetzen, dort ein Feuerchen entfachen und ein paar Dummköpfe die Aktion nutzen, um Frust abzulassen und mehrere Schaufenster kaputt zu schlagen, wird dies überzeichnet («Basel Nord brennt»), skandalisiert («Polizei war im Bild, griff aber nicht ein») und schliesslich krampfhaft zur Staatsaffäre hochgeschrieben («Gass hat Polizeikorps nicht im Griff», «Gass als Handlanger der rot-grünen Regierung»). Eine solche Geschichte lässt sich tagelang in Gang halten und weiterentwickeln. Und fast noch besser eignet sich das Thema Gewalt für scheinobjektive Grafiken, für sogenannte Crime Maps, auf denen die Stadt zu einem einzigen Ort des Schreckens zusammenschrumpft.
Die Realität sieht etwas anders aus. In der letzten statistisch ausgewerteten Phase (2010) hat die Kriminalität in Basel nicht zu- sondern abgenommen. Dennoch titelte die BaZ: «Mehr Gewalt in Basel». Umso dramatischer wirkt es dann auch, dass die Täter «überproportional oft» Ausländer seien. So wird der Boden bereitet für grosse Leitartikel. Gegen linke Politik, gegen offene Grenzen, gegen internationale Zusammenarbeit, für eine isolationistische Schweiz.
«Entscheidend ist das Gefühl»
Auf das Klima in der Stadt wirken sich die vielen Behauptungen, Teilwahrheiten und Pauschalisierungen, die auch von Politikern und ganz normalen Bürgern ständig wiederholt werden, offenbar eher negativ aus. Die Basler fühlen sich jedenfalls immer unsicherer, wie die neuste Ausgabe der Städtebefragung zeigt. Für die BaZ ein Triumph. «Basel hat ein Sicherheitsproblem», titelte sie nach der Publikation. Zur Veranschaulichung zeigte sie einen jungen, dunkelhäutigen Mann mit Messer, offensichtlich ein Krimineller. Tags darauf legte Raphael Suter, Leiter des Stadtressorts, noch einen Leitartikel nach, in dem er überraschend offen zugibt, dass Fakten für ihn nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben. Entscheidend sei «das Gefühl», die öffentliche «Wahrnehmung» der Sicherheit. Ob sich diese «mit den wirklichen Ereignissen und ihrer Häufigkeit deckt, ist auch nicht wichtig», schreibt er.
Sicherheitsdirektor Hanspeter Gass (FDP) sammelt solche Artikel. Weil er sich über die Stimmungsmache ärgert. Und weil es zu einem wichtigen Bestandteil seiner Arbeit geworden ist, die kursierenden Unwahrheiten zu widerlegen.
«Ich möchte nichts schönreden, lasse mir aber gleichzeitig auch nicht meine Stadt schlechtreden und -schreiben», sagt er. Darum zitiert er immer wieder die Statistiken, die ihm und der Regierung recht geben. Zahlen, die zeigen, dass die Kriminalität seit 2005 eher abgenommen hat, dass Basel-Stadt sehr viel sicherer ist als andere Städte und jetzt schon eine höhere Polizeidichte hat als alle anderen Kantone. Dennoch habe die Regierung entschieden, zusätzliche Polizisten anzustellen. Nicht 100 oder 120 wie von der SVP gefordert, sondern 45. «Diese werden zielgerichtet eingesetzt, dort, wo es sie braucht. Das bringt sehr viel mehr, als sie nach dem Giesskannenprinzip auf alle Quartiere zu verteilen, so wie es der SVP vorschwebt», sagt Gass.
Der Sicherheitsdirektor präsentiert immer wieder neue Folien und neue Statistiken und redet und redet und redet. Die einfachen Botschaften der Angstmacher und ihre einprägsamen Bilder zu widerlegen, ist anstrengend. Und sehr schwierig. Weil Gewalt ein komplexes Phänomen ist, kaum fassbar, und die Lösungen auch nicht einfacher erscheinen, wenn man sich eingehend mit dem Thema befasst. Eher das Gegenteil ist der Fall. Diesen Eindruck hinterlässt jedenfalls auch die Studie, für die der Basler Soziologe Ueli Mäder 2005 in Zusammenarbeit mit dem Soziologischen Institut, der Hochschule für Pädagogik und Soziale Arbeit beider Basel 142 Fälle auswertete, die bei der Basler Jugendanwaltschaft aktenkundig geworden waren. Für die wissenschaftliche Arbeit sprachen er und Olivier Steiner mit einer ganzen Reihe junger Straftäter. Was sie dabei zu hören bekamen, war teilweise verstörend und teilweise berührend. Die Jugendlichen sprachen von der Lust an der Gewalt und der Befriedigung, andere zu erniedrigen. Gleichzeitig stellten sie die Sinnfrage. Hat es für sie einen Platz in der Gesellschaft? Haben sie eine Perspektive, auch ausserhalb der Gruppe, in der sie gelernt haben, sich durchzusetzen, sich Respekt zu verschaffen?
Die alten Schläger sind empört
«Die berufliche und die soziale Integration sind zwei ganz entscheidende Faktoren», sagt Mäder. Wer aus stabilen Verhältnissen kommt und gute Aussichten auf einen guten Job hat, schlägt nicht so rasch zu. «Jugendliche mit Migrationshintergrund und aus Familien mit tiefem Einkommen und engen Wohnungen werden häufiger straffällig», sagt Mäder. Umso erfreulicher sei es, dass die Schule, die Gesellschaft sehr viel für die Integration unternehme.
Mäder streicht gerne das Positive heraus und kommt doch immer wieder auf negative Tendenzen zu sprechen, welche die Gewalt seiner Ansicht nach fördern. Es sind grosse gesellschaftliche Trends und Gegebenheiten. Das alles dominierende Konkurrenzdenken zum Beispiel, die extreme Konsumhaltung, die sich auch auf einen teilweise masslosen Umgang mit Alkohol und Drogen auswirkt, die fehlenden Freiräume für Kinder und Jugendliche, die menschliche Kälte in einigen Familien auch.
Der ehemalige Wachtmeister Dölf Hofer hält zwar nicht sehr viel von Akademikern und ihrem «ganzen Gerede». Er ist ein Mann der Tat. In einzelnen Punkten würde er Mäder aber wohl dennoch zustimmen. «In der heutigen Gesellschaft gibt es keine Grenzen mehr», sagt er. Und: «Es fehlt der Respekt.»
Das würden übrigens auch frühere Schläger sagen, mit denen er es während seiner Dienstzeit immer wieder zu tun hatte. Wenn er sie heute wieder einmal im Kleinbasel trifft, dann schauen sie den «Dölf» treuherzig an und sagen: «Also solche Sachen wie Leute zu überfallen und alten Frauen das Handtäschchen zu rauben, das hätten wir schon nie getan!»
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13/01/12