In der Öffentlichkeit sind wir schüchtern. Trotzdem wünschen wir jedem Niesenden oder Essenden, dem wir über den Weg laufen, «Gesundheit» beziehungsweise «en Guete». Wieso eigentlich?
Wenn wir uns in der Öffentlichkeit befinden, beschränken wir die Kommunikation mit Fremden gerne auf ein Minimum. Die Dame in der Supermarktschlange will über die neueste Salami-Aktion plaudern? Lieber nicht drauf eingehen. Das Gegenüber im Pendelzug zeigt sich besonders kommunikativ? Schnell die Kopfhörer aufsetzen.
Solche Annäherungen lassen die Alarmglocken des urbanen Mitteleuropäers läuten: Wagt es jemand, die Grenzen meiner imaginären Privatsphäre zu überschreiten?
Der Alltag bietet manches Ärgernis, aber auch manche Freude. Diese beschreiben wir möglichst lebensnah und manchmal auch mit einem 😉 versehen in unserer Rubrik «Wahnsinn Alltag!». Und machen – wo’s nötig ist – den Faktencheck.
Doch es scheint zwei Ausnahmen zu geben, bei denen diese kulturelle Regel nicht gilt: Wenn jemand niest oder wenn jemand isst. Es spielt keine Rolle, ob es der oder die Unbekannte in der Warteschlange oder das Gegenüber im Drämmli ist – beim Niesen sagen wir «Gesundheit», beim Essen wünschen wir «en Guete». Immer.
Aber wieso überwinden wir unsere Kommunikationsangst im öffentlichen Raum genau in diesen Situationen?
Die einfachste Erklärung wäre natürlich: Es ist eine Anstandsregel, die wir nicht nur im vertrauten Freundes- und Familienkreis verwenden, sondern auf die Öffentlichkeit erweitert haben.
Ein Blick in Knigges Handbuch des Anstands zeigt jedoch: Unser Benehmen ist höchst seltsam. Sowohl das Wünschen einer bekömmlichen Mahlzeit als auch die Gesundheits-Floskel ist in den meisten Situationen unangebracht.
Durch das Wünschen guter Gesundheit wird die Aufmerksamkeit auf den Niesenden gelenkt – und ganz ehrlich: Das will eigentlich keiner.
Ausserdem ist das «Gesundheit» ursprünglich eine rein egoistische Aussage – zu mittelalterlichen Zeiten wurde die Formel als Selbstschutz vor gruseligen Krankheiten verwendet.
Auch das «en Guete» ist laut Knigge unhöflich – auf der entsprechenden Website wird allerdings nicht erklärt, warum. Stattdessen hilft uns da Stil.de weiter: Laut dem Beratungsunternehmen sollte, wer selbst gekocht hat, eine verbale Einladung zum Essen unterlassen – das sei lediglich Selbstlob.
An offiziellen Anlässen können die Gastgeberin oder der Gastgeber als Einleitung einfach zum Besteck greifen.
Natürlich sind sich die meisten dessen nicht bewusst. Und genau deshalb folgen wir diesen Anstandsregeln so brav – schliesslich wollen wir ja höflich sein. Ausserdem: Wir wären gerne kommunikativ – Schüchternheit in der Öffentlichkeit hin oder her. Wie praktisch, dass diese Pseudo-Anstands-Formeln einen sicheren Übungsrahmen für eine unverfängliche Kontaktaufnahme bieten.
PS: Dass wir uns in Sachen Anstand überhaupt nach Knigge orientieren, ist eigentlich totaler Quatsch. Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr Knigge wurde 1752 in Bredenbeck bei Hannover geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und war als Schriftsteller tätig. Sein bekanntestes Werk «Über den Umgang mit Menschen» ist heute bekannt als Benimmratgeber. Dabei war Knigge selbst alles andere als ein Fan von aufgesetzten Anstandsregeln. Vielmehr ist sein Werk eine soziologische Studie mit Beobachtungen, wie sich verschiedene Menschen mit verschiedenen Hintergründen benehmen. Sein Buch sollte die Kommunikation vereinfachen. Hilfsmittel: ja. Regeln: nein. Diese kamen erst später dazu und werden von Edition zu Edition stets ergänzt.