Andernorts wird heftig über das Sitzenbleiben in der Schule gestritten. Basel schafft es einfach ab.
Wer in der Schule sitzen bleibt, kann sich damit trösten, dass es einigen grossen Figuren der Welt- und Kulturgeschichte nicht besser ergangen ist – Albert Einstein, Thomas Edison oder Thomas Mann.
Im Normalfall ändert das allerdings nichts an der Enttäuschung, weder bei den kleinen Einsteins, Edisons und Manns, noch in ihrem Umfeld. Sitzen zu bleiben ist eine Schmach, eine kleinere bis mittlere Tragödie.
Unverständige Schüler gegen Lehrer ohne Verständnis
Entsprechend viele Geschichten gibt es, die damit verbunden sind. Erinnerungen wie jene an den Kollegen, der vom ersten Schultag an Probleme mit dem Unterrichtsstoff hatte. Und fast noch mehr mit der strengen Lehrerin. Einmal rächte sich der unverständige Schüler für das Unverständnis der Lehrerin, indem er im Schulzimmer auf einen Stuhl «brünzelte». Danach behauptete er, der übelriechende Saft stamme von einer alten Orange, auf die er dummerweise gesessen sei. Die Lehrerin glaubte ihm kein Wort und schimpfte fürchterlich. Nach nur einem Jahr hatte sie endgültig genug; das widerspenstige Kerlchen musste die erste Klasse wiederholen, was sich auf seine Leistungen nur sehr bedingt auswirkte. Besser wurden höchstens seine Ausreden.
Dann gibt es aber auch ganz andere Erfahrungen. Die einer Lehrerin zum Beispiel, welche die Schule früher aus der Perspektive der Schülerin auch noch blöd fand. Wegen den Lehrern. Dann repetierte sie – und plötzlich ging alles besser, wohl auch dank den neuen Lehrern.
Ebenfalls interessant: die Erinnerung eines langjährigen Lehrers an ein unvergessliches Gespräch mit einer Mutter. Warum ihr jüngster Sohn im Gegensatz zu seinen Geschwistern nie sitzen bleibe, wollte die Frau wissen. Der Kleine werde langsam überheblich.
Es sind drei ganz unterschiedliche Fälle, bei denen es allerdings immer um die gleiche Frage geht: Ist es richtig, eine Schülerin, einen Schüler eine Klasse repetieren zu lassen? Bringt ihn das zumindest in seiner persönlichen Entwicklung weiter, in seiner Leistungsfähigkeit auch? Oder liegt das Problem nicht bei ihm, sondern im Umfeld?
Hitzige Grundsatzdebatte
Es sind Fragen, die in Deutschland zu einer hitzigen Debatte geführt haben. Lehrer, Eltern, Behörden, Wissenschafter, Leitartikler und Gewerkschafter – seit einigen Wochen äussern sich alle zu dem Thema. Wobei es immer weniger um die Kinder geht und dafür immer mehr um Prinzipien und Politik.
Die Linken sagen, Leistung entstehe nicht durch Zwang und Strafe, sondern durch Motivation. Das würden auch Studien belegen, sagen ihre Bildungsexperten. Die Zeit kruder Disziplinierungsmassnahmen sei vorbei, den Rohrstock vermisse auch niemand mehr.
Rechte Politiker halten solche Äusserungen für einen Unsinn und den neuesten Auswuchs der grassierenden Kuschelpädagogik. «Zurück zum Leistungsgedanken!» fordert etwa Sachsens ehemaliger Kultusminister Matthias Rössler. Es brauche nicht weniger, sondern mehr «Sanktionsmittel», ergänzte Hamburgs ehemaliger Schulsenator Rudolf Lange im Gespräch mit dem «Spiegel». Der Jugend müssten auch wieder die Sekundärtugenden wie «Fleiss, Pünktlichkeit und Ordnung» beigebracht werden.
Auf der Seite der Rechten und Aufrechten scheint auch das Volk zu stehen. Gemäss Umfragen lehnt eine deutliche Mehrheit der Deutschen die Abschaffung der Ehrenrunde klar ab. Selbst die Schüler votieren dagegen.
Schweizer Lehrer werden aktiv
Ähnliche Umfragen könnten bald auch in der Schweiz in Auftrag gegeben werden. Denn die Debatte fängt nun auch hier an – nicht nur aus pädagogischen Gründen, sondern auch aus finanziellen.
Wie die «Schweiz am Sonntag» vor Kurzem vorgerechnet hat, repetieren jährlich 2,4 Prozent der Schweizer Primar- und Oberstufenschüler. In absoluten Zahlen sind das 20000 Kinder und Jugendliche, wobei jedes zusätzliche Schuljahr den Staat 12 000 bis 17 000 Franken kostet, was summa summarum über 300 Millionen Franken macht, die aufs Konto der umstrittenen Ehrenrunden gehen. Nach Ansicht des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) könnte das viele Geld sehr viel sinnvoller investiert werden – in Fördermassnahmen, wie Jürg Brühlmann vom LCH sagt.
Gleicher Ansicht ist Hans Georg Signer, Leiter Bildung im Basler Erziehungsdepartement: «Allzu oft führen Repetitionen bei den Schülern weder zu einer besseren Leistung noch zu einer höheren Motivation.» Das Sitzenbleiben diene höchstens noch der Schule, ihr Problem mit der Heterogenität in den Klassen zu lösen. «Das wollen wir in Basel nicht», sagt Signer.
Sehr deutlich zeigt sich das nun in der Basler Schulreform. In der neuen Primar- und Sekundarschule werden jeweils alle Kinder und Jugendlichen «unabhängig von der Beurteilung im Zeugnis ins nächste Schuljahr (…) befördert», wie es in der Laufbahnverordnung heisst. Vorgesehen sind Repetitionen nur noch bei speziellen persönlichen Umständen (verzögerte Entwicklung, längere Krankheit, andere schwerwiegende Probleme) oder bei einem Wechsel ins nächst höhere Sek-Niveau.
Widerspruch vom Land
Über die Schulreform wurde in der Basler Politik und im Erziehungsrat zwar sehr viel diskutiert, nicht aber über diesen Punkt – eigentlich überraschend in Anbetracht der hitzigen Auseinandersetzung in Deutschland. Gut möglich allerdings, dass das neue System auch in Basel noch für Ärger sorgen wird – spätestens, wenn die Sek-Schüler merken, dass sie das Schuljahr trotz schlechten Leistungen nicht wiederholen können, dafür aber in ein tieferes Niveau versetzt werden.
Eine Vorgabe, die mit Kuschelpädagogik wenig zu tun hat. Ein Grund, warum Signer sagt, die ganze Debatte um die Repetitionen laufe falsch. «Es geht immer nur um Leistung contra Wohlfühlpädagogik, um Realisten gegen Idealisten. Dabei müsste es doch einfach das Ziel sein, eine sinnvolle Lösung für das einzelne Kind zu finden.» Eine Lösung, wie sie Basel-Stadt nun gefunden hat – als mögliches Vorbild für die anderen Kantone, wie Signer sagt.
Christian Amsler (FDP), Schaffhauser Regierungsrat und Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, hat sich in der «Schweiz am Sonntag» allerdings schon einmal für die Beibehaltung der Ehrenrunde ausgesprochen.
Und selbst im eigenen Bildungsraum stossen die Basler mit ihren neuen Ideen auf Widerstand. Die Baselbieter Regierung hat kürzlich jedenfalls schon festgehalten, dass in diesem Bereich «kein Handlungsbedarf besteht». Trotz des angeblich bald einheitlichen Schulsystems mit Basel-Stadt. Und trotz der relativ hohen Quote von fast 25 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, die während ihrer Zeit in der Primar- und Sekundarschule ein Jahr wiederholen müssen.
Was bringen die Ehrenrunden?
Studien aus der Schweiz zum Thema Sitzenbleiben gibt es nicht. Untersuchungen aus dem Ausland, insbesondere den USA, legen allerdings den Schluss nahe, dass vor allem Schüler, die in ihrer Entwicklung weniger weit sind, von einer Repetition profitieren. Lernschwache Schüler verbessern ihre Leistungen dagegen höchstens kurzfristig. Längerfristig werden sie nach einer Ehrenrunde zum Teil sogar noch schlechter, weil die Wiederholung des gleichen Schulstoffes mit den gleichen Methoden offenbar nur bedingt effizient ist (mehr dazu auf der Rückseite dieses Artikels).
Kritiker der Zwangsrepetitionen plädieren deshalb dafür, auf individuelle Förderung statt auf Repetition zu setzen und verweisen dabei auf skandinavische Länder, die mit diesem Modell Erfolg haben. Ihrer Forderung hat die Basler Schule bereits, bis jetzt zumindest, bis zu einem gewissen Grade nachgelebt. In der Primar- und der bisher als Gesamtschule geführten Sekundarschule lag die Quote der Wiederholenden darum schon jetzt bei etwa einem Prozent – ein vergleichsweise tiefer Wert.
Mit der offiziellen Abschaffung des Sitzenbleibens aus Leistungsgründen innerhalb der Schulreform will das Erziehungsdepartement diese Quote nun sogar noch halbieren. Strenger wird die Selektion dafür im Gymnasium: Wer allzu schlechte Noten hat, fliegt dort raus. Ein weiterer Punkt, der wohl noch zu Diskussionen führen dürfte.
Diskutiert wird das Thema des Sitzenbleibens auch bei uns – in der Wochendebatte. Reden Sie mit!
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.04.13