Weihnachten in Zeiten der Patchworkfamilie

Auch wenn geschiedene Eltern und ihre Kinder die Zeit der Trennung gut überstanden haben – der Härtetest ist erst bestanden, wenn die Weihnachtstage organisiert sind.

Weihnachtsfeier 1921: Da war die (Famiien-)Welt noch in Ordnung. (Bild: Keystone/Everett Collection)

Auch wenn geschiedene Eltern und ihre Kinder die Zeit der Trennung gut überstanden haben – der Härtetest ist erst bestanden, wenn die Weihnachtstage organisiert sind.

Das Weihnachtsfest ist das Familienfest des Jahres schlechthin, die Zusammenkunft so heilig wie die Familie, der am Heiligen Abend gehuldigt wird. Aber anders als jene Familie vor zweitausend und elf Jahren, die so übersichtlich aus Vater, Mutter und Kind bestand, verfügen die meisten lebenden Familien über einen komplexen Anhang. Die Eltern haben noch eigene Eltern, Geschwister, Schwiegereltern, eventuell auch Grosseltern – sie alle wollen in den Weihnachtstagen besucht oder eingeladen werden.

Die Kinder finden das super. Sie dürfen damit rechnen, von jedem Familienmitglied ein Geschenk zu erhalten. Je mehr Mitglieder, desto mehr Geschenkli. Das ist klar. Doch für die Erwachsenen gehört es zu den grössten logistischen Herausforderungen des Jahres, die Weihnachtstage zu organisieren. Nicht wegen der Kocherei, nein, Fondue chinoise löst dieses Problem locker. Die Frage aller Fragen ist die: Wann feiert wer bei und mit wem?

Beleidigte Schwiegermutter

Solange die Familienverhältnisse ordentlich sind, gehts einigermassen. Die Schwiegermutter ist zwar jedesmal beleidigt, wenn der Besuch bei ihr erst am zweiten Weihnachtstag geplant ist. Sie fühlt sich gegenüber den anderen (Schwieger-)Eltern zurückgesetzt; der 26. sei zweitrangig, sagt sie. Irgendwie kein richtiger Weihnachtstag mehr.

Dieses Problem lässt sich lösen, indem man auf solche Befindlichkeiten Rücksicht nimmt und, wenn immer möglich, die anderen, weniger empfindlichen (Schwieger-)Eltern am 26. trifft. So reichen die drei Festtage knapp, um den Ansprüchen aller gerecht zu werden. Etwa so: Heiligabend feiert die Kernfamilie – Vater, Mutter, Kinder, am 25. besucht sie die Seite mit der empfindlichen Schwiegermutter, am 26. die andere. Selbstverständlich gibt es auch andere Modelle. Wenn sich beide (Schwieger-)Elternpaare gut verstehen, ist eine gemeinsame Weihnachtsfeier möglich. Dann bleibt sogar ein festfreier Tag übrig.

Geschieden und dann Patchwork

Nun ist es aber so, dass etwa die Hälfte der Ehen geschieden werden. Der Partner fürs Leben hat dem Lebensabschnittspartner Platz gemacht. Die heute sehr verbreitete Familienform heisst Patchwork. Und je älter die Mitglieder, desto bunter die Zusammensetzung.

Nehmen wir folgendes Modell – ein durchaus realistisches übrigens: ein Paar um die 50. Die Frau hat zwei erwachsene Kinder von zwei verschiedenen Lebensabschnittspartnern, der Mann ist ebenfalls Vater von zweien – aber immerhin haben diese die gleiche Mutter. Damit wir die Übersicht nicht verlieren, eine erste Zusammenfassung: Da sind drei Väter und zwei Mütter.

Nun haben aber die vier erwachsenen Kinder bereits Partner, und entsprechend der Scheidungsstatistik haben sich die Eltern von zweien dieser Partner auch irgendwann einmal getrennt und sind neue Beziehungen eingegangen. Es wird kompliziert.

Grosseltern aussen vor

Zu den drei Vätern und zwei Müttern der Patchwork-Kernfamilie kommen vier Mütter und vier Väter dazu, von denen je zwei nicht mehr zusammenleben. Dennoch ist davon auszugehen, dass alle diese Mütter und Väter irgendwann mit ihren Kindern Weihnachten feiern möchten.

Die allenfalls noch lebenden Grosseltern, respektive (Schwieger-)Eltern lassen wir der Einfachheit halber vorläufig mal weg und kehren zu den Eltern zurück: Alle zusammenzuführen, ist unmöglich. Bei aller gelebten Toleranz – in Brüche gegangene Liebesbeziehungen um einen Tisch zu versammeln, ist nicht unbedingt die beste Voraussetzung für ein gelungenes Fest. Was nun?

Eine einzige Katastrophe

Manchmal liegen die Feiertage arbeitstechnisch so günstig, dass zwei bezogene Frei-Tage gleich eine ganze Ferienwoche ergeben. Dann steht ein bisschen Spielraum zur Verfügung. Aber in diesem Jahr? Eine einzige Katastrophe, nur ein mickriger Frei-Tag mehr als an einem gewöhnlichen Wochenende. Wie soll das bloss funktionieren?

Man kann es drehen und wenden, wie man will – selbst wenn man die noch lebenden Grosseltern der erwachsenen Kinder definitiv von der Liste streicht: Es bräuchte zwingend mehr Feiertage, damit alle Patchworker unserer Modellfamilie auf ihre Kosten kommen könnten. Immerhin, es gibt in der Regel ein paar, die wir abziehen können.

Zum Beispiel: Glücklicherweise ist einer der Väter vor ein paar Jahren ausgewandert, ein anderer hat sich sonst irgendwie von der familiären Verantwortung verabschiedet, und eine der Mütter macht mit ihrer neuen Familie in den Bergen Skiurlaub. Die empfindliche Schwiegermutter fällt auch weg, sie hat den Kontakt abgebrochen. Das ganze Chaos – mit den Trennungen und Neupaarungen – ist ihr zu viel geworden. Das andere noch lebende Gross- bzw. (Schwieger-)Elternpaar ist bei einer Schwester des Mannes unserer Kern-Patchwork-Familie eingeladen.

Da wird allen schwindlig

Damit verbleiben noch: das Lebensabschnittspaar mit den insgesamt vier erwachsenen Kindern und deren Partnern, ein Vater des einen Sohns, ein weiterer von dessen Partnerin, die Mutter des Partners der Tochter, sowie die zwei noch zusammenlebenden Elternpaare von den restlichen beiden Partnern der Kinder.

Falls einen die Aufzählung nicht vollkommen schwindlig gemacht hat, ergibt das eine Summe von sechs Terminen. Stets vorausgesetzt, dass die erwachsenen Kinder nicht auch noch ein eigenes kleines Weihnachtsfest einfordern.

Doodeln nützt nichts

Es ist klar: Ohne weitere Abstriche sind harmonische Weihnachten immer noch in weiter Ferne. Da nützt alles Doodeln nichts. Nach genauer Analyse der Situation kristallisiert sich nur ­diese eine Lösung heraus: Der Vater des Sohns muss weg, denn der ist der einzige, mit dem das Lebensabschnitts­paar eine Vergangenheit teilt.

Aber bitte keine Missverständnisse – ermorden muss man ihn deswegen nicht. Nein, das Lebensabschnittspaar lädt einfach seine vier Kinder und ihre Partner inklusive deren noch verbliebenen Eltern zu sich nach Hause ein. Denn diese haben keine vorbelasteten Beziehungen untereinander.

Sogar in Sachen Termin gibt es dann plötzlich Spielraum. Falls der Ex der Frau nicht mit seinem Sohn am 26. feiern will, weil er den 26. nicht als richtigen Weihnachtstag empfindet, soll er ihn doch am 25. haben. Das Lebens­abschnitts­paar sieht das nicht so eng. Hauptsache, Weihnachten ist gerettet. Wenigstens in ­diesem Jahr.

Bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Paarungen auch im kommenden Jahr noch ­gelten, sonst beginnt die ganze elende Rech­nerei von vorne. Obwohl – 2012 braucht es nur zwei Frei-Tage, um eine Brücke zu Neujahr zu bauen.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11

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