Georg Geiger unterrichtet seit über 20 Jahren an einem Basler Gymnasium. Im Interview erklärt er, wie Bildungsreformen den Lehreralltag verändern und warum der Lehrplan 21 zu einer «Überprüfungsmaschinerie» führt.
Wir treffen Georg Geiger im Unternehmen Mitte. An der Schule, wo er unterrichtet, darf er keine Interviews geben. Wir dürfen auch nicht schreiben, an welcher Schule er unterrichtet – das ist die Weisung des Erziehungsdepartements (ED) für alle Lehrpersonen in Basel-Stadt.
Was Geiger sagt, soll nicht in Zusammenhang mit der offiziellen Sichtweise des ED gebracht werden. Beim Gespräch wird auch klar, warum. Der Geschichts- und Deutschlehrer spart nicht mit Kritik an den Reformen, die in den letzten Jahrzehnten durchgeführt wurden.
Der Lehrplan 21 ist für ihn eine Fehlkonstruktion – und das, obwohl Geiger seit 20 Jahren an einem Basler Gymnasium unterrichtet, wo der neue Lehrplan gar nicht gilt. Der Einfluss sei trotzdem da.
Herr Geiger, Sie sind seit über 20 Jahren Gymnasiallehrer. Geht mit der Zeit der Elan verloren?
Nein. Je älter man wird, umso vielfältiger unterrichtet man. Man hat eine natürliche Autorität, ein gelasseneres Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern, man weiss mehr. Man wird mit dem Alter eigentlich nur besser.
Wie haben Sie die Veränderungen im Bildungsbereich in den letzten 20 Jahren erlebt?
Der Unterricht hat sich nicht gross verändert. Trotz allen Reformen ist der Spielraum, den man als Lehrer hat, sehr gross. Die bildungspolitischen Reformen greifen noch nicht total in den Unterricht ein, aber der Gestaltungsspielraum wird spürbar enger.
Wo machen sich die Reformen denn bemerkbar?
In den äusseren Rahmenbedingungen. In der Zunahme von Verordnungen von oben nach unten. In der Abnahme von demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten. Man hat mehr Bürokratie-Aufwand. Viele Reformen, die man mit guten Begründungen von oben befahl, hatten keinen besonders guten Effekt auf unseren Schulalltag.
Zum Beispiel?
Man will, dass Lehrpersonen mehr im Team arbeiten. Das Problem dabei: Wenn du Teamarbeit erzwingst, ist es keine gute Teamarbeit mehr. Man hat zum Beispiel gesagt, man soll gemeinsame Prüfungen machen. Jedes Fach muss mindestens alle drei Jahre nachweisen, dass man gemeinsam prüft. Das ist gut gemeint. Es tut jedem Lehrer gut, wenn er mal mit jemandem zusammen einen Theaterbesuch macht und danach eine gemeinsame Fragestellung erarbeitet. Daraus wird aber eine bürokratische Massnahme.
Wie war das früher?
Wenn Lehrpersonen vor 20 Jahren eine Initiative ergriffen, etwas ausprobieren wollten, dann war der Spielraum gross. Heute kommt von oben herab die Verordnung, was man alles muss und darf. Die schlimmste Bevormundung ist die Überarbeitung der Lehrpläne. Den Lehrplan 21 haben etwa 200 Leute, hermetisch abgeschlossen von der Aussenwelt, während mehrerer Jahre erarbeitet.
Der Lehrplan 21 wurde über elf Jahre hinweg entwickelt, mehrmals überarbeitet, auch aufgrund von Fachhearings mit Leuten aus der Praxis.
Aber es war ein Zirkel von etwa 200 Leuten, der mit uns Lehrpersonen wenig zu tun hatte.
Sie hätten sich auch einbringen können.
Das war nicht vorgesehen. Mir wurde gesagt, dass die Implementierung des Kompetenzbegriffes nicht zur Debatte stand und als gesetzt galt.
Was ist denn das Problem am Lehrplan 21?
Als der neue Lehrplan fertig war, mussten wir auch am Gymnasium die Lehrpläne ändern. Man gab uns eine Vokabularliste mit Verben, die wir in den neuen Lehrplänen verwenden mussten. Wenn du als gut ausgebildeter Akademiker solche Listen bekommst, dann fragst du dich schon, was das soll.
Verstehen Sie die Forderung, dass die Lehrpläne einheitlich sein sollten?
Nein, das verstehe ich nicht.
Warum nicht?
Das Ziel der nationalen Abstimmung zum Harmos-Konkordat war, dass die Stundentafeln und die Abfolge der Fremdsprachen einheitlich geregelt werden. Das sind die grössten Hemmnisse, wenn Familien den Kanton wechseln wollen. Beides hat man bis heute nicht zustande gebracht. Aber man hat den Lehrplan 21 formuliert, der im Harmos-Konkordat gar nicht vorgesehen war. Das war eine reine Interpretation der Vorlage.
Der neue Lehrplan schafft einen Rahmen, konkretisiert die Lerninhalte mit sogenannten Kompetenzen. Was ist daran so schlimm?
Kompetenzorientierung ist nichts Neues. Wir unterrichten längst nicht mehr nach dem Schema Nürnberger-Trichter – also nur Auswendiglernen und fertig. Wir vermitteln den Schülerinnen und Schülern seit Jahren Kompetenzen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Fachwissen und Haltungen. Was ist also das Neue am Lehrplan 21? Das Neue ist die Ausformulierung der Kompetenzen. Diese führt dazu, dass die Überprüfungsmaschinerie zunehmen wird. Denn die Kompetenzen müssen ja überprüft werden. Im Prinzip gibt es zwei gegenläufige Entwicklungen: Wissen muss individueller werden, es geht um die Vermittlung von Kompetenzen und Fertigkeiten. Auf der anderen Seite gibt es eine zunehmende Tendenz, standardisierte Tests durchzuführen.
Das Problem sind also nicht die Kompetenzen an sich, sondern die zusätzlichen Tests, mit denen sie geprüft werden sollen. Sind das Wissen und die Fertigkeiten, die Sie als sinnvoll erachten, überhaupt messbar?
Das Wissen und die Fertigkeiten sind nicht fix. Das muss man als Lehrer immer wieder neu verhandeln.
Wie meinen Sie das genau?
Man muss aushandeln, an welchen Dingen man nicht vorbeikommt. Zum Beispiel an der Französischen Revolution. Ich halte es für falsch, wenn man diese auslässt.
Sie fordern einen Kanon: Das müssen Schülerinnen und Schüler wissen – und das nicht.
Nicht unbedingt. Es braucht einige kanonisierte Pfeiler und darum herum viel Freiheit zur weiteren Veranschaulichung.
Das ist genau das, was der Lehrplan 21 bietet.
Ja. Aber dafür hätte es den Lehrplan nicht gebraucht. Das hatten wir schon vorher. Das Problematische ist die hohe Ausdifferenzierung von Einzelkompetenzen. Damit kann man diesen Lehrplan nicht handhaben. Ein Lehrplan muss einfach sein. Ich zeige ihn meinen Schülerinnen und Schülern an jedem Semesteranfang: Das wird von mir erwartet und ich setze es so und so um. Wenn du den Lehrplan 21 als Ganzes anschaust, kriegst du eine halbe Depression, weil du denkst, du bist der grösste Idiot. Eine solche Komplexität in einer derart abstrakt formulierten Sprache – das sollst du noch im Griff haben? Keine Chance, hast du das Gefühl. Dazu kommt, man macht einen Riesenaufwand und sagt den Lehrpersonen danach: Ach Gott, ihr schaut so genau auf diesen Lehrplan – tut doch nicht so genau. Das ist bildungspolitisch nicht in Ordnung. Ich nehme den Lehrplan ernst.
Der Lehrplan lässt auch einige Freiheiten.
Weil man Bildung gerecht machen wollte, hat man damit angefangen, Monokultur zu betreiben. Damit wird die Vielfalt zerstört, die eigentlich zur Bildung gehört. Wenn die Lehrplan-Freiheit grösser wäre, wäre auch die Qualität der Bildung höher. In der Biologie hat man schon seit geraumer Zeit gemerkt, dass nur Biodiversität nachhaltig ist!
Was halten Sie davon, dass mit dem neuen Lehrplan de facto eine Lektion Geschichte wegfällt?
Es wird immer wieder betont, wie wichtig politische Bildung und Ökologie seien – und jetzt streicht man die Fächer Geschichte und Geografie zusammen. Geht es eigentlich noch? Es ist gestört, dass man das macht.
Viele Lehrplan-Kritiker kommen aus der rechten Ecke – Sie nicht.
Das stimmt. Ich bin zum Beispiel Mitglied bei Denknetz, ein Thinktank aus dem linken Spektrum. Innerhalb der Linken gibt es fast keine Diskussion über den Lehrplan 21 – dabei ist die Basis der linken Parteien in dieser Frage erstaunlich heterogen.
Neuerdings gibt es einen Ableger des Komitees «Starke Schule» in Basel-Stadt: Das müsste Ihnen gefallen. Reformkritiker Jürg Wiedemann und sein Komitee schiessen gegen das gleiche Ziel wie Sie.
Wiedemann und ich kritisieren ähnliche Entwicklungen, aber wir haben unterschiedliche Visionen. Wiedemann will eine Schule, wie sie in den 1960er-Jahren war. Er meint, wenn es wieder so sei wie früher, dann sei alles gut. Das ist Quatsch. Das Komitee kämpft gegen Sammelfächer. Ich auch. Ich meine aber: Es soll den Lehrerinnen und Lehrern freistehen, so etwas zu probieren. Wenn man Sammelfächer von oben verordnet, läuft man Gefahr, dass Lehrpersonen fachfremd unterrichten müssen. Was passiert dann? Sie suchen Hilfe im Internet, in Lehrbüchern. Der Unterricht wird dadurch banal.
Fächerkombinationen können den Unterricht auch bereichern.
Wenn du wenig Wissen in einem Fach hast, kannst du nicht variieren – gerade wenn du auf verschiedene soziale Gruppen eingehen willst. Als ich an der WBS lehrte, hatte ich zwölf Nationen im Geschichtsunterricht. Beim Thema Revolution traf ich auf die unterschiedlichsten Vorstellungen. Ich hatte einen Schüler aus dem Balkan mit Bürgerkriegs-Erfahrung oder ein Tamilen-Mädchen, dessen Mutter mir verbat, über Gewaltthemen zu sprechen. Da reicht es nicht, eine vorpräparierte Schulstunde aus einem Lehrbuch zu kopieren.
Georg Geiger unterrichtet Geschichte und Deutsch an einem Basler Gymnasium. Er war auch als Assistent am deutschen Seminar der Uni Basel tätig. (Bild: Alexander Preobrajenski)