Widerstand gegen den Atomstaat

In den 1970er- und 1980er-Jahren wehrten sich Zehntausende gegen den Bau und die Inbetriebnahme von AKWs. Antrieb für die Proteste war nicht nur die Angst vor der Atomkraft, sondern auch die Befürchtung, zum Schutz der Risikotechnologie würde ein Überwachungsstaat aufgezogen.

Gösgen 1977: Die Staatsmacht formiert sich zum Schutz der Atomkraft. (Bild: Keystone/Reto Hügin)

In den 1970er- und 1980er-Jahren wehrten sich Zehntausende gegen den Bau und die Inbetriebnahme von AKWs. Antrieb für die Proteste war nicht nur die Angst vor der Atomkraft, sondern auch die Befürchtung, zum Schutz der Risikotechnologie würde ein Überwachungsstaat aufgezogen.

Mitte der 1970er-Jahre wurde der Widerstand gegen Atomkraftwerke zu einem europäischen Massenphänomen. Dies zeigten die Bauplatzbesetzungen in Wyhl (D) und Kaiseraugst (CH) im Jahr 1975, die Blockade der Zufahrtswege des AKW Gösgen (CH) 1977, die heftige Auseinandersetzung um den Bauplatz in Grohnde (D) sowie die Grossdemonstrationen gegen den Schnellen Brüter in Creys-Malville (F) im selben Jahr und der Massenaufmarsch gegen das AKW Brokdorf (D) 1981.

Erfolg war dem Widerstand nur in Wyhl und Kaiseraugst beschieden. An den anderen Orten wurden der Bau und die Inbetriebnahme mithilfe der Ordnungshüter durchgesetzt. Dabei kam es teilweise zu heftigen Polizeieinsätzen. So erstaunt es nicht, dass damals das Wort vom «Atomstaat» die Runde machte, wobei mit Staat vor allem die Staatsgewalt in Form der Repressionskräfte gemeint war.

Doppelantrieb von Terror- und Atomfurcht

Geprägt hatte den Begriff der Zukunftsforscher und Atomenergiegegner Robert Jungk (1913–1994) mit seinem im Jahr 1977 erschienenen Buch «Der Atomstaat». Jungk verwies darin auf die vielen Risiken der Atomwirtschaft.

Dabei beschäftigte ihn neben der technischen auch die gesellschaftliche Dimension der Problematik: «Zur Debatte steht nicht nur die künftige Form der Energieversorgung, sondern auch die der Herrschaft. Der Konflikt geht nicht nur um eine bestimmte Technik, sondern um alle Erscheinungsformen und Machtabhängigkeiten der grossindustriellen Technologie. Dahinter steht die noch umfassendere Frage, ob die bisherige, auf Unterwerfung und Ausbeutung zielende Richtung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes für den Menschen noch länger taugen kann.»



Robert Jungk bei der Demo gegen die Inbetriebnahme des AKW Gösgen am 12. November 1978.

Robert Jungk bei der Demo gegen die Inbetriebnahme des AKW Gösgen am 12. November 1978. (Bild: Keystone/Str)

Der «Atomstaat», so Jungks Befürchtung, würde zum «Überwachungsstaat» werden: «Der Doppelantrieb von Terror- und Atomfurcht wird jedoch die Industriestaaten veranlassen, alle ‹Erkenntnisse›, die über ihre Bürger in den verschiedensten staatlichen und privaten Datenbanken gehortet sind, bei Bedarf zu einem einzigen Warn- und Kontrollsystem von nie zuvor gekannter Dichte zusammenzuschalten.»

Massenphänomene haben oft eine kurze Halbwertszeit. So erstaunt es nicht, dass trotz den Katastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) die Mobilisierungen gegen die Atomkraft in der Schweiz später nicht mehr das Ausmass der Aktionen und Demonstrationen der 1970er- und 1980er-Jahre erreichten. In weniger spektakulärer Form errang der Widerstand gegen die Atomkraft allerdings immer wieder kleine Siege. So etwa am 23. September 1990, als die eidgenössische Volksinitiative für ein zehnjähriges Moratorium im AKW-Bau angenommen wurde.

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