Wie der Matrose Emil Selhofer zu Viet Bac wurde

Fluchtpunkt Fremdenlegion: Die Geschichte eines Schweizer Überläufers im Indochinakrieg.

Fallschirmjäger der Fremdenlegion landen bei Dien Bien Phu 1954. Bei der Entscheidungsschlacht des ersten Indochinakrieges zwischen Frankreich und den Viet Minh kamen auch 280 Schweizer Söldner ums Leben. (Bild: gamma rapho)

Fluchtpunkt Fremdenlegion: Die Geschichte eines Schweizer Überläufers im Indochinakrieg.

Als Emil Selhofer seinen Platz im Leben gefunden hatte, war er schon bald tot.

1941 steht der 15-Jährige am Rheinufer, ein Schlepper zieht vorbei, die Schiffermütze hängt schräg ins Gesicht, die Hose ist ihm mindestens eine Nummer zu gross, die Arme hat er vor dem schmächtigen Körper verschränkt, ein Lächeln aus Vorfreude auf die grosse Fahrt: Selhofer ist jetzt Matrose. Die Schweizer Reederei wird ihm nach der Lehre ein gutes Zeugnis ausstellen, obwohl sie in den Akten vermerkt, dass sich Selhofer «gerne in den schlechtesten Wirtschaften Kleinbasels aufhält und sich dort in Schlägereien eingelassen hat».

Selhofer wird sich auf mehr als Kneipenraufereien einlassen. 1953 liegt er tot in den Bergen Nordvietnams. Erschossen wahrscheinlich. Vielleicht auch an Dysenterie zugrunde gegangen.

Zehn Jahre, in denen Selhofer durchgemacht hat, was kein Schweizer von Gesetzes wegen durchmachen darf. Er ist in den Krieg gezogen. Er hat als Söldner für die Fremdenlegion und gegen die Viet Minh und den Zerfall des französischen Kolonialreichs in Indochina gekämpft. Doch gestorben ist Emil Selhofer als Viet Bac.

Unerforschtes Terrain

Nachgezeichnet hat sein Leben der junge Basler Historiker An Lac Truong Dinh in seiner Lizentiatsarbeit, die soeben im feinen Chronos Verlag als Buch erschienen ist. Er beleuchtet ein weitgehend unerforschtes Stück Schweizer Geschichte. Selhofer war einer von gesamthaft rund 1 300 Schweizer Söldnern im ersten Indochina­krieg, der 1945 mit der Unabhängigkeitserklärung Ho Chi Minhs in Hanoi begann und mit «Frankreichs Stalingrad», der Schlacht um Dien Bien Phu, 1954 zu Ende ging.

Truong Dinh hat Selhofer regelrecht aufgespürt. Nach mehrjährigen Recherchen in französischen, Schweizer und vietnamesischen Archiven und mit Gesprächen mit alten Generälen der Viet Minh und der in Zürich lebenden Schwester Selhofers.

Als Emil Selhofer beschloss, die Schweiz zu verlassen, herrschte rundherum noch Krieg. Selhofer war kein Antifaschist, wie viele Legionäre in Kriegsjahren. Er war nicht einmal politisch interessiert. Vielleicht handelte er aus «jugendlichem Leichtsinn und Abenteuerlust», wie es in den Basler Polizeiakten heisst. 1944, 18-jährig, kündigte er bei der Schweizer Reederei in Basel, weil er keine Perspektive mehr sah. Zuvor war er in den Landdienst nach Waldenburg versetzt worden. Bevor er ging, schrieb er an seine Mutter: «Verzeihe mir, in meinem Herzen ist Nacht, aber die Zukunft steht vor mir hell und leuchtend, das ist die Welt, in die ich hineinsegeln werde, die Welt, die ich mir gewünscht habe.»

Nach einem kurzen Aufenthalt beim französischen Widerstand landete Selhofer schliesslich auf einem Schiff, das ihn zur Legion Algerien brachte, wo er in einer Art Schnellbleiche zum Soldaten ausgebildet wurde. Nur zwei Monate später legte das Schiff wieder ab. Ziel: Saigon.

Krieg der Legionäre

Frankreich brauchte dringend frische Kräfte in Vietnam. Doch aufgrund innenpolitischer Abwägungen sollten möglichst wenig Franzosen für Frankreich in den Krieg ziehen. Viele Fremdenlegionäre, 75 000 insgesamt, verteidigten die Grande Nation in Südostasien. Jeder Fünfte starb dabei. Eine Truppe, die zu grossen Teilen aus jungen Deutschen und Italienern bestand, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor dem Nichts standen.

Auch aus der Schweiz kam steter Nachschub. Zwischen 1949 und 1959 schlossen sich jährlich mehr als 20o Schweizer der Fremdenlegion an. Die Regierung verfolgte diese Entwicklung mit wachsender Verärgerung. Auf kursierende Broschüren der «Legio Patria Nostra» reagierte der Bund mit einer Kampagne, die davor warnte, sich «zum Kanonenfutter für die französischen Behörden» zu machen. Frankreich ignorierte die Kritik weitgehend.

Erst 1966 wurde die Verpflichtung Minderjähriger faktisch verboten. Total dienten gemäss Schätzungen zwischen 30 000 und 40 000 Schweizer von 1831 bis heute in der Legion. In den letzten Jahrzehnten sank deren Anziehungskraft spürbar. Laut Angaben der Militärjustiz wurden in den letzten 15 Jahren noch 16 Verfahren geführt. Noch immer verfolgt die Schweiz mir grosser Gründlichkeit ihre Abtrünnigen.

Dass die Legion – heute nur noch eine kleine Eliteeinheit – für Schweizer keine Alternative mehr ist, liegt auch am Wandel der Schweiz. «Taucht man in die Welt der Legionäre ein, so stösst man auf die Armut in der Schweiz, auf die Ausgestossenen, auf die Entrechteten, auf die administrativ Versorgten, die wie Parias parallel zur sich ent­wickelnden Wohlstandsgesellschaft überlebten und vom Fluchtpunkt Fremdenlegion träumten», sagt der Basler Historiker Peter Huber, der die Schweizer Legionsgeschichte im Rahmen eines Nationalfondsprojekt erstmals umfassend untersucht.

Selhofer passt nicht in dieses Muster. Er wurde auch nicht der typische Söldner, der für Geld alles tat. Den Legionären wurden in einem äusserst brutal geführten Krieg aussergewöhnliche Gewaltexzesse angelastet. Rückkehrer schildern etwa die «Carte blanche», ein Freischein zum «Niederknallen von allem, was uns vor die Füs­se kam», der verteilt wurde, um widerspenstige Dörfer zu «pazifieren».

Flucht von der «Mörderbande»

Am 28. Juni 1947, nach zwei Jahren in Vietnam, desertierte Selhofer. Die für ihn vormals «beste Truppe Frankreichs» entpuppte sich als Haufen enthemmter Säufer. Er schrieb seiner Mutter: «Ich will dir wieder unter die Augen treten. Deshalb habe ich mich geweigert, bei dieser Mörderbande zu bleiben und Frauen, Kinder und Mütter zu ermorden. Denn diese Arbeit ist der Legion in Viet Nam zugedacht.»

Da stand er schon unter dem Einfluss seiner neuen Einheit, dem «Détachement Tell» einer Propagandagruppe der Viet Minh, zusammengesetzt aus fahnenflüchtigen Legionären. Zeitweise führte Selhofer die Einheit sogar an. Er erhielt den Namen Viet Bac und politische Schulungen. Mit revolutionärem Gestus schrieb er seiner Mutter von der «zynischen, spiessbürgerlichen Schweiz» und vom Freiheitskampf der Völker. Als Viet Bac schien er ein neuer Mensch geworden zu sein.
Doch den Viet Minh dienten die geflohenen Legionäre vor allem zur Propaganda. Sie sollten die moralische Überlegenheit der Rebellen bezeugen. Kämpfen durften sie kaum. Die Vietnamesen trauten den Überläufern nicht. Selhofer, der vor allem gebraucht werden wollte, hatte die Aufgabe, wie er schrieb, in den Camps «Volleyballspiele zu organisieren».

Wunsch nach Heimkehr

Er wollte zurück in die Schweiz. Die meisten Legionäre wurden Anfang der 1950er-Jahre repatriiert, häufig in die DDR. Selhofer musste bleiben. Auch weil die Schweiz keinen diplomatischen Kontakt zu den Viet Minh aufbauen wollte. Selhofer, zum Bleiben gezwungen, versuchte sich zu arrangieren. Er lernte Vietnamesisch und die Sprache der Tho-Minderheit. Die vietnamesische Armee beförderte ihn zum Leutnant. Seiner Mutter schrieb er, dass ihm der «Gedanke zu heiraten nicht mehr so fremd ist wie früher». Hatte Emil Selhofer im Krieg seinen Frieden gefunden?

1953 wurde er laut der offiziellen ­vietnamesischen Version auf eine «mission spéciale» geschickt, von der er nicht mehr zurückkehrte. Bestätigen lässt sich das nicht. Auch Autor Truong Dinh hat das Grab nicht gefunden. Doch vergessen ging Selhofer alias Viet Bac in Vietnam bis heute nicht.

Der ehemalige Lagerleiter Le Van erinnert sich an ihn. Er sei «aufrichtig, anständig und treu» gewesen, ein «Waffenbruder» und «Kumpane». Doch verstanden, sagt er, habe er ihn nie. Er, Le Van, habe für die Unabhängigkeit seines Landes gekämpft. Aber die Legionäre, wozu seien die in den Kampf gezogen?

 

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11

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