Wie die Liebe selbst

Chris Cornell ist tot. Mit seiner wuchtigen Stimme hatte er in den 1990er-Jahren den Grunge geprägt. Tief berührend war aber seine leise Seite. Ein persönlicher Nachruf.

Chris Cornell of US band Soundgarden during his performance at the Greenfield Openair, on Saturday, June 14, 2014, in Interlaken, Switzerland. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

(Bild: Keystone/Gian Ehrenzeller)

Seien Sie nachsichtig. Ich bin kein Musikjournalist. Wollte ich nie sein. Aber Chris Cornell ist gestorben. Und ein Ausnahmekönner verlangt aussergewöhnliche Massnahmen.
Musikjournalisten wissen immer so wahnsinnig viel zu erzählen. Sie wüssten ganz genau, was Chris Cornell für den Grunge bedeutet hat, wann er den besten Auftritt mit dem irrsten Stargast auf der Bühne hatte oder welches die beste Version seines Riesenhits «Black Hole Sun» mit Soundgarden sei – und schon gäbe es Kommentare, dass dieser Riesenhit doch beileibe nicht zu Cornells besten Song zu zählen sei.

Klar tut er das. Und diese Version ist wirklich hörenswert:

Chris Cornell ist für mich vor allem eins: ein Gefühl. Mit seiner Stimme, die so fein alles Elend der Welt abfedern konnte, und dann, plötzlich, sich überschlug in Wut, in Trauer, in eine Gewissheit, wie sie sonst nur in der inneren Gefühlswelt eines Neunzigerjahre-Teenagers existieren konnte – damit hat sich Chris Cornell in mein Herz verschanzt und dort für mich Träume gezaubert.

Ich war in einem Alter, in dem ein Jugendlicher zu meiner Zeit erstmals feststellte, dass es noch andere Musik gibt, als sie einem auf den damaligen Sendern Viva oder MTV begegnete. Dass man eine Heavy Rotation auch eigenhändig erstellen kann. Und dass da auch ganze Alben einen Platz finden können, nicht nur einzelne Riesenhits.

Chris Cornells Soloalbum «Euphoria Morning», 1999 veröffentlicht, war sozusagen meine Heavy Rotation damals. Ein Album, von dem irgendeine MTV-Tussi zu sagen wagte, es sei ein Flop. Dies, weil niemand «Bock auf Cornells selbstmitleidig-melancholisches Gejammere» habe.

Cornells Soloalbum «Euphoria Morning» ist nicht ganz leicht zugänglich. Wie die Liebe eben.

Nun, ich hatte mächtig Bock darauf. Es passte einfach. Viel zu jung war ich, die Mädchen sahen viel zu gut aus, und mein Mädchen wusste noch gar nicht, dass es meines sein sollte. Zu all dem Übel war da noch die Rekrutenschule, für die ich mich jeden Sonntagabend für gute drei Stunden in den Zug von Basel via Bern nach Moudon setzte. Das ist im Waadtland, im «Pissoir der Schweiz», wie die Einheimischen selbst zu sagen pflegen. So oft regnet es da.

Amouröse Mangelerscheinungen und Militärdienst also: Was hätte ich da denn bitte anderes machen sollen? Mich nicht in selbstmitleidig-melancholische Stimmung zurückziehen und Chris Cornells völlig unterschätztes Soloalbum hören?

Ich bitte Sie.

Zugegeben, «Euphoria Morning» ist nicht ganz leicht zugänglich. Wie die Liebe eben. Für Chris Cornell mag es ungewohnt leise daherkommen. Tatsächlich brauchte es auch bei mir ein paar Anläufe, bis ich die Schönheit von «Can’t Change Me» schätzen lernte, ausgerechnet der erste Song auf dem Album.

Meistens hatte ich die Kopfhörer schon auf, wenn ich mich ins Zugabteil setzte, und spätestens beim zweiten Song, «Flutter Girl», konnte es losgehen. Die Uniform wurde mir egal. Cornells Stimme trug mich fort, und ich war bei meinem Mädchen, das nicht meines werden sollte.

Und wenn das Album beim hochdramatischen «Steel Rain», dem letzten Song, angelangt war, quälte ich mich aus der Sitzbank, der ganze Körper von Melancholie erfüllt, schwer wie nach einer wilden Nacht, und ich stellte mich meinem Schicksal. Oder ich spielte das Album nochmals von vorn ab.

Schön war das. Wenn nicht dieser Discman gerade mal wieder dem rechten Ohr die Töne verweigerte. Oder dem linken. Oder beiden zusammen. Wackelkontakt! Ich kam mir jeweils vor wie einer der «zwe Fründe imne Sportflugzüg», nur dass ich eben allein im Flugzeug sass, das den Geist aufgibt und abstürzt. Da konnte ich noch so wild mit meinen Zeigefinger dem Discman eins aufs Dach geben.

Aber ich hatte Glück. Irgendwann hat Uri Geller während einer seiner damals sehr beliebten Fernsehshow meinen Discman geflickt. Er sagte bloss: «Drei, zwei, eins: geh!» – und ich mit meinem Discman auf der Schoss, flüsterte mit, nützts nüt, so schadts nüt, und siehe da, ich konnte wieder Chris Cornells Wunderstimme hören. Mein Discman hatte zeitlebens nie mehr eine Störung. Eine Geschichte für sich.

Jetzt kann auch ein Uri Geller nichts mehr ausrichten. Chris Cornell ist mit 52 Jahren gestorben, mitten in einer gewöhnlichen Woche, völlig unerwartet, nur Stunden nach einem Konzert. Zum letzten Mal live gesehen habe ich ihn am Openair in St. Gallen, irgendwann in den Nullerjahren.

Heute denke ich leise: Chris Cornell, drei, zwei, eins: geh!

Meine Teenagerzeit hatte ich hinter mir, seine neuesten Songs kannte ich kaum, «You Know My Name» etwa, der Titelsong für James-Bond-Film «Casino Royale», und doch schmetterte mich Cornell erneut mit aller Wucht zurück in diese Zeit. In meine Zeit, wie ich irgendwann vielleicht behaupten werde.

Ein Musikjournalist werde ich auch dann nicht sein. Aber ein Fan von Chris Cornell, da bin ich mir sicher. Es mag pathetisch daherkommen, bestimmt nichts nützen, ganz bestimmt nicht sogar, und doch will ich es versuchen. Ich denke leise: Chris Cornell, drei, zwei, eins: geh!

«The Moment After The Show» – Ein Bild und seine Geschichte

Auch Kollege und Musikjournalist Olivier Joliat hat eine Erinnerung an den verstorbenen Sänger. Unterwegs mit Fotograf Matthias Willi hat er ihn am Montreux Jazz Festival 2005 getroffen. Dabei ist dieses Bild entstanden:



Chris Cornell nach einem Konzert mit Audioslave am Jazz Festival Montreux 2005.
Chris Cornell nach einem Konzert mit Audioslave am Jazz Festival Montreux 2005. (Bild: Matthias Willi)

Olivier Joliat erinnert sich:

Das Konzert von Audioslave versprach für Matthias Willi und mich nicht nur musikalisch ein grossartiger Abend zu werden, sondern auch für das Fotoprojekt «The Moment After the Show», das wir relativ frisch gestartet hatten. Musikalisch sozialisiert mit Grunge und 1992 im alten Joggeli erstmals Soundgarden gesehen, freuten wir uns auf die Supergroup mit Musikern von Rage Against the Machine und der unglaublichen Stimme von Soundgarden, Chris Cornell.

So viele alte Helden auf einen Schlag: Die wollten wir nach dem Konzert verschwitzt vor der Kamera. Dafür erduldet man auch stoisch das Gehabe des Tourmanagers, der vor diesem Job wohl Drill Sergeant bei den Marines war. Immerhin brüllte er ein Yes!

Es wurde ein trauriger Abend. Cornell wirkte fahrig, die Band spielte schleppend. Auf allen Vieren kam er auch im Backstage an, zog sich zurück und baute sich erst nach langer Pause für die Kamera auf. Ein Grund, warum das Foto nicht in unser Buch kam – auch Cornell schien an dem Abend nicht besonders glücklich.

Mit dem Comeback von Soundgarden fand eine der berührendsten Rockstimmen auch ausserhalb des Grunge wieder zu alter Grösse und überzeugte 2014 vor Black Sabbath im Hallenstadion auch live. Nun ist Cornell verstummt und ich traurig. Und so passt schliesslich auch das Foto. Leider.

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