An Basler Sekundarschulen gibt es das Fach Geschichte so nicht mehr. Ein Besuch in der Sandgruben-Schule.
Samuel Steiner beginnt die Schulstunde mit einem Gedankenexperiment. «Stellt euch vor, ihr würdet vor 100 Jahren leben, eure Eltern wären Kolonialherren in Indien oder im Kongo: Was würdet ihr den ganzen Tag tun?»
Ein Schüler sagt: «Ich würde mit meinen Freunden auf dem Marktplatz Versteckis spielen.» Und danach Melonen essen.
Steiner zeigt den Schülerinnen und Schüler Bilder aus der Kolonialzeit. So haben sie sich das Leben als Kolonialkinder nicht vorgestellt.
Einzigartig in der Schweiz
Was an der Sekundarschule Sandgruben ein normaler Freitagmorgen ist, ist einzigartig ausserhalb von Basel-Stadt. Hier unterrichten die Lehrpersonen seit 2015 nach dem Lehrplan 21. Die Fächer Geschichte und Geografie werden gemeinsam unter dem Namen «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) unterrichtet.
Die Kombinationsfächer sind seit Jahren ein Streitpunkt zwischen Bildungsexperten und Lehrplan-Gegnern. Die einen sagen, die Bildung werde dadurch schlechter, die anderen halten Kombi-Fächer für die einzig richtige Zukunft des Lernens. Baselland stimmte im Sommer 2016 an der Urne gar über Sammelfächer ab. Die Stimmbevölkerung lehnte diese ab.
Interessant ist das Experiment Lehrplan 21 am Sandgruben-Schulhaus auch, weil hier der Unterricht nicht in herkömmlichen Klassen, sondern stufenübergreifend stattfindet. Dafür hat die Schule eine Sonderbewilligung vom Kanton.
Geografie pur
Steiner projiziert eine Weltkarte an die Wand und zeigt, wie die koloniale Welt vor dem Ersten Weltkrieg aufgeteilt war. «Als höchster Berg Deutschlands wurde der Kilimandscharo aufgeführt, der damals Kaiser-Wilhelm-Spitze hiess.»
Die Schülerinnen und Schüler sind beeindruckt. Sie merken nicht, wie die ehemals getrennten Fächer Geschichte und Geografie zu einer Einheit verschmelzen.
So fliessend wie beim Kilimandscharo sind die Übergänge jedoch nicht überall. Die letzten 20 Minuten lernen die Jugendlichen, wie man Klimadiagramme liest und was die durchschnittliche Monatstemperatur bedeutet – Geografie pur.
Orientiert sich an Lebenswelt
Nach der Stunde sagt Steiner: «Die ehemals getrennten Fächer hängen sehr eng zusammen, ein gemeinsamer Aspekt lässt sich fast immer finden.» Es komme aber auch vor, dass er in manchen Stunden nur Geschichte und in anderen fast nur Geografie unterrichte.
Christoph Mylaeus, Geschäftsführer der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D-EDK), hat das Modell der Kombinationsfächer mitentwickelt. Er erklärt: «Der Volksschul-Unterricht orientiert sich mehr an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler als an den akademischen Disziplinen.»
Der fächerübergreifende Unterricht biete sich dafür an, Lerngegenstände aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. «Sie können nicht den Gotthard besprechen, ohne gleichzeitig die geografischen Begebenheiten und die historischen Entwicklungen zu thematisieren.»
Eine Lektion weniger
Die Erfahrungswerte hätten für den Unterricht in Kombinationsfächer gesprochen – wobei es der Lehrplan 21 den Kantonen frei lasse, weiterhin in Einzelfächern zu unterrichten. «In den Kantonen, in denen bereits fachübergreifender Unterricht stattfand, funktionierte dies gut, also haben wir uns dafür entschieden», so Mylaeus.
Steiner von der Sandgruben-Schule stösst sich an einem Punkt: In den neuen Stundentafeln haben Schülerinnen und Schüler in Basel-Stadt nur drei Lektionen RZG. Im früheren System waren es in der Regel zwei Geschichts- plus zwei Geografielektionen.
Schülerinnen und Schüler merken keinen Unterschied
Es bleibt de facto also weniger Zeit für Geschichte. Steiner kann deswegen nicht das Gleiche unterrichten wie vorher. Er kriege zwar thematisch dasselbe Level hin, könne aber weniger in die Details gehen. «Es bleibt weniger Zeit, Geschichten zu erzählen.»
Ob Geschichte oder Geografie – den Unterschied merken die Schülerinnen und Schüler in Steiners Lektion gar nicht. Das zeigt sich im Gespräch mit einem Schüler. Sie müssen den Unterschied auch nicht kennen. Für sie ist es RZG.