Wie lange überlebt die Pharma?

Sinkende Erfolgsquoten, steigende Forschungskosten, auslaufende Patente: Geld verdienen wird für die grossen Pharmakonzerne immer schwieriger. Ab 2020 könnte es den Medikamentenproduzenten langsam, aber sicher an den Kragen gehen. Und damit dem Pharmastandort Basel.

Novartis lagert einen Teil ihrer Produktion in Ausland aus. Will sich das Unternehmen so vor dem drohenden Untergang schützen?

1000 Arbeitsplätze in Basel, 700 in Stein, 350 in Schweizerhalle: Der massive Stellenabbau, den Novartis Ende September verkündete, schockierte die Pharmaregion Basel. Bereitet der Riese seinen Abgang vor?

Jeder achte Schweizer Arbeitsplatz von Novartis fällt in den kommenden vier Jahren der Umstrukturierung zum Opfer. Die Stellen werden gestrichen oder ins Ausland verlagert. Normalerweise bedeutet eine solche Strategie, dass ein Unternehmen ums Überleben kämpft. Kein Szenario, das man bisher mit der florierenden Pharmaindustrie in Verbindung brachte.

Im Gegenteil: 16,5 Milliarden Franken Gewinn erwirtschafteten Novartis und Roche gemeinsam im vergangenen Jahr. Bilanzen, von denen andere Branchen nur träumen können. Warum dann dieser Kahlschlag?

https://tageswoche.ch/form/reportage/wie-sich-indien-fuer-die-pharma-huebsch-macht/

Eine Erklärung dafür hat der Novartis-Manager Kelvin Stott. Der Portfolio-Chef des Pharmakonzerns zeichnet ein düsteres Zukunftsszenario seiner Branche. Ausserhalb der Fachpresse erhielt sein Blog-Beitrag nur wenig Aufmerksamkeit. Vor ein paar Wochen griff ihn die «Sonntags-Zeitung» auf, ansonsten orientieren sich die Medien vorwiegend an Gewinnzahlen und Firmen-PR.

Wer hinter die Fassade blickt, schaut direkt in den Abgrund. «Das kaputte Geschäftsmodell der Pharma – eine Industrie am Rande des tödlichen Niedergangs» heisst der zweiteilige Beitrag Stotts. Darin schildert der Topmanager dramatische Entwicklungen, die er für unumkehrbar hält. So sei bereits 2020 der Zeitpunkt erreicht, an dem Investitionen in die Pharmaindustrie keinen Gewinn mehr erzeugten.

Schon heute weist der aktuelle Branchenbericht «Evaluate Pharma» insbesondere für die grössten Pharmakonzerne erschreckend tiefe Kennzahlen aus. Für jeden Franken, den Novartis in ein Medikament investiert, schauen 2018 gerade mal 1.20 Franken heraus. Vor allem die vielen Zukäufe schlagen aufs Geschäft. Bei Roche liegt der Return on Investment  bei 1.50 Franken. Dass diese Entwicklung Geldgeber abschreckt, zeigen die stark rückläufigen Aktienkurse der Basler Pharmamultis.

Der Zenit ist überschritten, glaubt Stott. Die tief hängenden Früchte seien abgeerntet und die Entwicklung neuer Wirkstoffe sei risikobehaftet und extrem teuer. Während die Einnahmen aus dem Verkauf jährlich um ein bis zwei Prozent wachsen, steigen die Entwicklungskosten um 8,5 Prozent pro Jahr. Mittlerweile kostet ein neuer Wirkstoff, bis er bei der US-Zulassungsbehörde angemeldet wird, mehr als eine Milliarde Franken.

Wenn Novartis 1 Franken in ein Medikament steckt, verdient sie 20 Rappen daran. Zu wenig, um die vielen Fehlschläge langfristig zu finanzieren.

Dazu kommt die Vielzahl der Misserfolge. Nur wenig mehr als zwei Prozent aller von der Pharmaindustrie entwickelten Wirkstoffe werden zum Erfolg. 97 Prozent scheitern entweder schon in der Entwicklung oder dann auf dem Markt. Wer so viel Ausschuss produziert, muss darauf setzen, dass seine wenigen Erfolge all die Fehlschläge kompensieren.

Medikamente nur noch für exotische Krankheiten

Einen Ausweg suchen Pharmamultis wie Roche und Novartis im Bereich der sogenannten Orphan Drugs: Sie entwickeln Medikamente gegen seltene Krankheiten. Das hat Vorteile, denn da Konkurrenzprodukte fehlen, können sie die Preise diktieren. Von den auf dem wichtigen US-Markt neu zugelassenen Medikamenten richteten sich letztes Jahr 40 Prozent gegen Krankheitsbilder, die weniger als 200’000 Menschen betreffen.

Gegen Massenkrankheiten gelangen dagegen kaum noch innovative Medikamente auf den Markt, weil die Ertragsaussichten gering sind. Aus politischer und gesellschaftlicher Sicht ist das eine bedenkliche Entwicklung. Aber auch die Firmen gehen Risiken ein.

Noch lassen Monopolpreise auf einigen Blockbustern die Erträge sprudeln. Doch mit ihrer Preispolitik geraten die Konzerne zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Gerade erst erhielt Novartis die Zulassung für ihre Kymriah-Therapie. Die Krebstherapie, die in der Schweiz jährlich etwa 100 Patienten nutzen könnten, kostet 350’000 Franken – pro Patient. Ein schmerzhafter Preis, auch für die Krankenkassen. Diese befinden sich derzeit in Verhandlungen mit Novartis.

In den USA hat Novartis auf Wunsch des Präsidenten Donald Trump vorerst auf Preiserhöhungen verzichtet. Der politische Druck auf die Medikamentenpreise dürfte hoch bleiben – für Firmen, die von einigen wenigen Ertragsbringern abhängig sind, ist das keine angenehme Perspektive.

Novartis-Manager Kevin Stott glaubt: Die Pharmaindustrie hat keine Zukunft. Er erkennt bei ihr den üblichen Verlauf von Auf- und Abstieg. Entwickelt hat sich die Branche aus der klassischen Chemieindustrie, als diese einen ähnlichen Niedergang erlebte. Die Frage ist nun, was auf den Niedergang von Big Pharma folgen wird.

Können sich die riesigen Konzerne anpassen? Können sie nochmals das gewaltige Kapital aufbringen, um in neue Forschungsfelder wie die Zell- und Gentherapie zu investieren – ohne Aussicht auf rasche Profite?

Oder liegt die Zukunft der Krankheitsbekämpfung bei kleinen, beweglichen Firmen, bei Start-ups, die nahe an den Universitäten arbeiten?

Die Folgen für Basel

Egal, wie sich die Zukunft der Branche gestaltet: Basel-Stadt ist auf Gedeih und Verderb mit ihr verwoben. Eine tragfähige Alternative zu den Pharma-Millionen fehlt bis heute.

Für die Entwicklung solcher Alternativen fühlt sich aber niemand wirklich zuständig. Wirtschaftsdirektor Christoph Brutschin winkt beim Thema Klumpenrisiko ab: «Ich betrachte unseren Branchenmix nicht als grundsätzlich problematisch, im Gegenteil.» Der Basler Branchenmix, das bedeutet folgende Anteile an der kantonalen Wertschöpfung: 36 Prozent Pharma und Chemie, 10,3 Prozent Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, 12,8 Prozent Beratung, Planung, Forschung und Immobilien. Weitere Bereiche machen jeweils nur einen kleinen Teil aus.

Zum Vergleich: Die stärkste Branche im Kanton Zürich ist mit 19 Prozent jene von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, im Baselbiet sind es mit 18,8 Prozent Handel und Reparatur. Dennoch ist Brutschin der Meinung, dass die Risiken in Basel-Stadt gut verteilt seien.

Die pessimistischen Zukunftsaussichten von Novartis-Manager Stott will er ebenfalls nicht teilen: «Die Branche musste sich schon immer in einem anspruchsvollen Umfeld behaupten. Auch wenn sich dies in Zukunft nicht ändert oder es sogar noch anspruchsvoller wird: Vom Punkt, wo sich der ‹Return on Investment› ins Negative kehrt, ist die Branche meines Wissens noch ein schönes Stück weit entfernt.» Kein Stichtag im Jahr 2020 also.

Wirtschaftsexperten glauben an das Weiterleben

Tatsächlich möchte aus wirtschaftsnahen Kreisen niemand die Abhängigkeit von der Pharma negativ deuten. «Jede andere Region wird Basel um das hiesige Cluster beneiden», sagt auch Michael Grass. Der diplomierte Volkswirtschaftler ist Geschäftsleitungsmitglied des Forschungsinstituts BAK Economics und hat im Auftrag des Branchenverbands Interpharma eine Studie zur Schweizer Pharmaindustrie verfasst. Er zeichnet eher eine rosige denn eine düstere Zukunft für die Branche.

Von Farbstoffen über Süssungsmittel bis zu hochspezialisierten Blutdruckmitteln: Die Pharmabranche musste sich immer wieder in neue Felder vorkämpfen.

Sein Optimismus rührt unter anderem daher, dass die Branche sehr wettbewerbsfähig sei. Dank ihrer Finanzstärke könne sie Innovationslücken auch mit Zukäufen schliessen. Hoffnung schöpft Grass auch aus der Vergangenheit, in der sich die Branche als sehr anpassungsfähig erwiesen hat: Die Novartis-Vorgängerfirmen produzierten allesamt Farbstoffe, bevor sie sich an unterschiedlichste Medikamente herantasteten – und nebenher auch noch den Süssstoff Saccharin oder das Insektizid DDT entwickelten.

Die Branche kennt also die Situation, sich neu erfinden zu müssen. Und das werde sie auch weiter tun, ist Grass überzeugt: «Der Stellenabbau bei Novartis ist ein Zeichen des Wandels. Solche Anpassungen sind teilweise schmerzhaft, aber notwendig, um in der Zukunft erfolgreich zu sein.» Ein schwacher Trost für die 2200 Mitarbeiter, die ihre Stellen verlieren. Aber ein gutes Zeichen für Basel-Stadt, das weiterhin mit hohen Steuereinnahmen von den Unternehmen rechnen kann.

Grass glaubt deshalb auch nicht, dass sich die Basler Sorgen machen müssen um die traditionsreichen Unternehmen: «Es gibt nach wie vor Forschungsbereiche, in denen man enorm erfolgreich sein kann. Es gibt ein riesiges Potenzial, beispielsweise in der Krebs- oder Alzheimerforschung.»

Für Grass ist es eine einfache Rechnung: «Die Weltbevölkerung wächst weiterhin und eine immer grösser werdende Schicht kann sich eine hochstehende Medizin leisten.» Auch mit der immer älter werdenden Bevölkerung in Europa steige der Bedarf an Medikamenten. «Die Nachfrage nach Produkten von Novartis, Roche und anderen Pharmaunternehmen wird also weiterhin zunehmen.»

138’000 Arbeitsplätze hängen von der Pharma ab

Was weder Grass noch Brutschin von der Hand weisen können: Ein Wegzug der Pharmabranche, so unwahrscheinlich er auch sein mag, hätte verheerende Folgen für den Wirtschaftsstandort Basel. Schon jetzt bekommen das die Angestellten zu spüren. Roche, die eben erst bekannt gab, in den ersten neun Monaten des Jahres ein Umsatzwachstum von sieben Prozent erwirtschaftet zu haben, ist ebenfalls daran, Arbeitsplätze abzubauen. Von den 2300 Stellen in Kaiseraugst werden 235 gestrichen.

Hier sieht man die Schattenseite der Abhängigkeit: Jeder Arbeitsplatz in der Pharmaindustrie generiert 3,2 Arbeitsplätze in anderen Unternehmen – so zum Beispiel bei Zulieferern, Transport- oder Rohstoffunternehmen. Bauen Roche und Novartis Stellen ab, so fallen auch die indirekten Arbeitsplätze weg. Am Tropf der Pharma hängen also nicht nur die Pharmaangestellten, die 43’000 Vollzeitstellen in der Schweiz ausmachen, sondern insgesamt 138’000.

Grass sieht denn auch die spezialisierten Zulieferer in der Pflicht, die von der Pharma abhängen: «Sie müssen sich an die geänderten Bedürfnisse der hiesigen Pharmaunternehmen anpassen oder der geografischen Verlagerung der herkömmlichen Produktion folgen.» Eine einfache Rechnung für theoretische Entwicklungen, harte Realitäten für Fachleute, die ihren Job verlieren, wenn sie dem Unternehmen nicht ins Ausland folgen.

Roche investiert noch immer Milliarden in seinen Basler Standort. Laut Experten gibt es also keinen Grund zur Sorge.

Die Branche hat sich immer wieder hochgekämpft

Aber auch das ist Jammern auf hohem Niveau, wenn man Christoph Brutschin glaubt. «Bei allem Bedauern über den aktuellen Stellenabbau gilt es, die Relationen zu wahren», sagt er. «Im Jahr 2005 gab es in Basel-Stadt 13’000 Arbeitsplätze in der Life-Sciences-Industrie, zehn Jahre später waren es bereits 19’000. Übers Ganze betrachtet, erachte ich es deshalb weiterhin als grosse Chance, diese Branche hier zu haben.»

Tatsächlich hatte auch der Strukturwandel in der chemisch-pharmazeutischen Industrie vor knapp 30 Jahren ähnliche Ausmasse, wie sie Basel heute erlebt: Zwischen 1990 und 1996 wurde sogar rund ein Drittel der Stellen abgebaut. Als Ciba-Geigy und Sandoz dann 1996 zum Pharmariesen Novartis fusionierten, konnte sich das neu gegründete Unternehmen aus der Talsohle stemmen.

Novartis stiess nach und nach einzelne Sparten ab, wie Lebensmittel, Agrarprodukte oder Industriechemikalien, und fokussierte auf eine kleine Sparte. Eine ähnliche Strategie verfolgt auch die F. Hoffmann-La Roche AG, die sich bereits früh auf Krebsmedikamente spezialisierte, aber auch mit Vitaminen Erfolge feierte – oder einen Milliardengewinn erwirtschaftete mit dem Grippeimpfstoff Tamiflu.

Mit dieser Wandelbarkeit würden die Unternehmen auch weiterhin erfolgreich sein, ist Grass überzeugt. Er sieht die Zukunft der Branche vor allem in der biotechnologischen Produktion: «Forschung und Produktion sind viel komplexer – die Herstellung ist aber auch wertschöpfungsintensiver.» Das bedeutet, dass Unternehmen einen Grossteil unabhängig von Zulieferern produzieren können. «Und auch wenn ein Patent ausläuft, lässt sich das Produkt von der Konkurrenz nicht so schnell und zuverlässig nachahmen wie bei klassischen chemischen Medikamenten.»

Die Grosskonzerne sind eine Blackbox

Zudem stossen die Pharmakonzerne  in einen weiteren neuen Bereich vor: personalisierte Medizin, zugeschnitten auf einzelne Patienten. Dass sie hier in einen lukrativen Bereich einsteigen, zeigt laut Gass, dass es auch branchenfremde Unternehmen gibt, die sich in Stellung bringen: Google und Apple. Zusätzliche Player, zusätzlicher Druck. «Digitalisierung gilt auch in der Pharmaindustrie als Schlüsselfaktor. Sie erfordert hohe Investitionen und zwingt die Pharmaunternehmen auch dazu, ihre Kostenstrukturen zu überdenken.» Und wenn Kostenstrukturen überdenkt werden, führt das oftmals zum Entscheid, Produkte günstiger im Ausland herzustellen.

Diese Überlegungen tätigen die Pharmariesen nicht in der Öffentlichkeit. Und das macht sie unberechenbar. Zwar tut Basel einiges dafür, die Unternehmen hier zu halten: Der Ökonom Grass attestiert Basel-Stadt einige Standortvorteile, unter anderem die Hochschullandschaft, das Steuersystem und auch die stabilen politischen Verhältnisse. Dennoch lassen sich die Pharmakonzerne nicht in die Karten blicken. Ende September musste die Basler Regierung eingestehen, vom Stellenabbau bei Novartis überrascht worden zu sein.

Ein Gefühl der Sicherheit hinterlässt dies nicht. Denn trotz all der guten Zusprüche, der positiven Prognosen und der Blockbuster-Medikamente, die über Jahre Milliarden in die Kassen der Pharmaunternehmen spülen werden: Sobald Novartis oder Roche einen Stellenabbau in drei- oder vierstelliger Höhe ankündigen, wird den Baslern wieder klar, in welcher Abhängigkeit sie sich befinden. Und dass sie immer am kürzeren Hebel sitzen werden.

Die genaue Strategie kennt niemand: Die Pharmabranche lässt sich nicht gern in die Karten blicken.

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