In einem glitzernden 37-stöckigen Gebäude im Herzen der Wirtschaftsmetropole Mumbai klingeln die Telefone von Pollux Life Sciences Solutions fast pausenlos. Das Unternehmen ist auf die Vermittlung von Arbeitskräften im Pharmabereich spezialisiert.
Direktor Hemant Deshpande erklärt, warum die Nachfrage für indische Fachkräfte so gross ist: «Indische Mitarbeiter schauen nicht auf die Uhr und sind bereit, Überstunden zu machen», sagt er.
Was er nicht erwähnt: Sie sind billig. In Indien liegt der Durchschnittslohn in der Pharmaindustrie bei knapp 1000 Franken im Monat. In der Schweiz ist er rund zehnmal so hoch.
Indien kämpft mit massiven sozialen und ökologischen Problemen: Verkehrschaos, Abfallkrise in den Städten, Mangel an Sanitäranlagen, verseuchte Flüsse, tiefe ethische und rechtliche Standards. Doch Indiens gigantische Einwohnerzahl von 1,2 Milliarden Menschen, ein hohes Bildungsniveau und die Einführung von Pharmawissenschaften an allen führenden Universitäten führt eben auch zu einem gut gefüllten Pool an qualifizierten Arbeitskräften.
Nicht nur für Novartis bleibt das Land deshalb eine Wunschdestination. Auf der Suche nach billigen Arbeitskräften und günstigeren Produktionsstätten strömen westliche Unternehmen seit mehr als zwei Jahrzehnten nach Indien. Bis 2017 war mehr als die Hälfte der weltweit verlagerten Dienstleistungen in das asiatische Land gezogen.
Dabei ist die am schnellsten wachsende Wirtschaftsmacht bisher nicht unbedingt bekannt als Standort für Pharmaunternehmen, sondern für seine Informationstechnologie (IT). Ausländische Direktinvestitionen in Indiens IT-Branche beliefen sich per Ende 2017 auf 27,72 Milliarden US-Dollar. Doch nun tötet die Automatisierung den IT-Boom. Junge Inderinnen und Inder absolvieren deshalb immer öfter ein Studium in pharmazeutischen Wissenschaften.
Und das mit Erfolg: Bereits 2015 stellte das britische Beratungsnetzwerk Ernst & Young fest, dass das pharmazeutische Outsourcing etwa drei Viertel der gesamten indischen Einnahmen aus dem medizinischen Prozess-Outsourcing (3,3 bis 4,2 Milliarden Dollar) ausmachte. Indien rückte damit zur zweitgrössten Destination für Healthcare-Outsourcing hinter den USA auf.
Zuerst das Back Office, dann die Forschung
Die südliche Metropole Hyderabad ist bei Pharmamultis besonders beliebt. 2015 veröffentlichte die Staatsregierung ihre «Life-Sciences-Politik», eine aggressive Verkaufsstrategie für Hyderabad als «Pharma-, Impfstoff- und Gesundheitshauptstadt mit einem reichen Talentpool». «Das Ökosystem für Pharma- und Bio-Technologie in und um Hyderabad übertrifft alle anderen Städte», heisst es darin. Die Stadt bietet Land zu günstigen Preisen in seinem «Genome Valley» an, eine der Pharmaindustrie gewidmeten Industrieanlage, wo sich auch die Büros und das Forschungszentrum von Novartis befinden.
Novartis hatte sein Zentrum in Hyderabad bereits 2001 gegründet, heute arbeiten in den dortigen Novartis Business Services (NBS) laut Auskunft von Novartis-Sprecher Satoshi Sugimoto 1700 Menschen. Damit ist Novartis nicht nur der grösste ausländische Pharmakonzern in Indien, sondern auch der älteste seiner Art. Die Zweigstelle in Hyderabad unterstützt die Basler Zentrale, andere Filialen sowie die Schwesterfirmen Alcon und Sandoz durch Finanzberichterstattung, medizinische Kommunikation und Datenmanagement.
Forschung und Entwicklung wollte Novartis nach einem verlorenen Patentstreit um sein Krebsmedikament Glivec 2013 in Indien eigentlich nicht weiter betreiben. Doch mittlerweile wurde dieser Entscheid umgestossen. Anfang des Jahres kündigte der Basler Konzern an, seine Forschungslabors in Hyderabad auszubauen und 150 zusätzliche Forscher anzustellen.
Die aktuell geplante Verlagerung von Basel nach Hyderabad betrifft laut Sugimoto keine Jobs im Bereich Forschung und Entwicklung. Ob das aber auch für die Zukunft gilt, kann er nicht sagen. Denn Indien hat – auch was die Forschung anbelangt – Vorteile gegenüber dem Rivalen China und den aufstrebenden Volkswirtschaften Osteuropas. Englisch als Bildungssprache ist eine der 23 offiziellen Sprachen Indiens und somit ein vorteilhaftes Erbe nach 200 Jahren britischer Kolonialherrschaft.
Der indische Wirtschaftsverband Assocham geht deshalb davon aus, dass Pharmamultis nicht nur die Verlagerung von Back-Office-Jobs nach Indien weiter vorantreiben werden. Indische Outsourcing-Vermittler rechnen damit, dass fast 80 Prozent der globalen Pharmamultis geneigt sind, Forschung und Entwicklung ebenfalls nach Indien zu verlagern.
Lasche Gesetze, handfeste Skandale
In Indien werden Medikamente bis zu 40 Prozent billiger als in Industrieländern hergestellt. Aber stimmt die Qualität? Hemant Deshpande, Direktor der Firma Pollux Life Sciences Solutions und seit drei Jahrzehnten in der Pharmabranche tätig, verweist auf die radikale Aufwertung von Indiens Produktionsstätten in den vergangenen Jahren.
Indem man sich den Massstäben der amerikanischen Bundesbehörde FDA zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimittel angepasst habe, sei es gelungen, 40 Prozent der in den USA verkauften Generika herzustellen. Ausserdem beherberge Indien die höchste Zahl von FDA-zugelassenen Unternehmen ausserhalb der USA.
Doch immer wieder schädigt der Pharmastandort Indien seine Reputation mit Skandalen. Strukturelle Schwächen in der staatlichen Aufsicht über Fabriken und Labore werden von Kriminellen häufig ausgenutzt.
Im September wurden in der Stadt Indore drei Männer verhaftet, darunter ein indischer Pharmawissenschaftler. Ermittler fanden bei ihnen elf Kilogramm des hochpotenten Betäubungsmittels Fentanyl – eine Droge, deren Herstellung von der Gesundheitsbehörde «kontrolliert» werden soll. Doch die Inspektionen sind oft viel zu lasch.
Lasch sind auch die Regeln für klinische Studien. 2013 hat Indiens Gesundheitsministerium der obersten Gerichtsinstanz mitgeteilt, dass in den sieben Jahren davor insgesamt 2644 Probanden bei Medikamentenversuchen ums Leben gekommen waren. Novartis gehörte zu den angeprangerten Unternehmen.
«Novartis ist einer der besten Pharmamultis in Indien, was die Qualität und Innovation seiner Präparate betrifft.»
Das Gericht verbot alle weiteren Versuche und forderte die Gesundheitsbehörde auf, Indiens veraltetes Drogen- und Kosmetikgesetz aus dem Jahr 1940 zu überholen und strengere Vorschriften zu erlassen. Solche Vorschriften liegen inzwischen vor, klinische Studien finden auch wieder statt. Eine Bestrafung für Todesfälle während klinischer Studien ist in der löcherigen Gesetzgebung allerdings weiterhin nicht vorgesehen. Arme Patienten und Analphabeten sind der Industrie ausgeliefert.
Trotz den Anschuldigungen geniesst Novartis unter indischen Forschern und Medizinern einen guten Ruf. «Novartis ist einer der besten Pharmamultis in Indien, was die Qualität und Innovation seiner Präparate betrifft,» sagt der Onkologe Sameer Kaul.
Zudem wehrt sich Kaul gegen den weit verbreiteten Vorwurf, Inder würden als Versuchskaninchen missbraucht: «Das ist unsinnig.» Klinische Tests seien in Indien auch für bereits im Ausland erfolgreich geprüfte Medikamente absolut unentbehrlich, da viele Krankheiten in Indien gen- und lebensstilbedingt seien.
Westliche Pharmahersteller hoffen mit Blick auf Asiens riesige Märkte auf lukrative Geschäfte. Allerdings ist der Ausblick getrübt: Einem aktuellen Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge entwickelt eine zunehmende Zahl von asiatischen Firmen spezifisch auf asiatische Krankheiten abgestimmte Medikamente. Dadurch sinkt die bisherige Abhängigkeit von überwiegend im Westen erprobten Präparaten.
Veraltete Arbeitsgesetze
Trotzdem bleibt Indien wegen seines schier unerschöpflichen Reservoirs an gut qualifizierten und doch günstigen Arbeitskräften attraktiv. Es ist diese extreme Ungleichheit, von der westliche multinationale Konzerne am meisten profitieren. Die Nachfrage für qualifizierte Fachkräfte ist auch in Indien gross, doch solange die Multis höhere Gehälter bezahlen als einheimische Firmen oder der Staat, wird es an Bewerbern nicht mangeln.
Mitunter wird die Qualifikation indischer Fachkräfte im Ausland infrage gestellt. Universitätsabschlüsse mögen sie haben, aber sind Inder wirklich in der Lage, über den Tellerrand zu schauen und sich der stets wechselnden Dynamik der Pharmaindustrie anzupassen?
Diese Frage bildet den Kern des 2018 veröffentlichen «India Skills Report» des Entwicklungsprograms der Vereinten Nationen (UNDP). Befragt wurden Studenten von fast 6000 technischen Hochschulen und Universitäten. Demnach stieg Indiens «Beschäftigungsfähigkeit» von 34 Prozent im Jahr 2014 auf 45,6 Prozent im Jahr 2018. Doch nach wie vor erweisen sich Ingenieure und nicht Pharma-Absolventen als die «Erwerbsfähigsten».
«Es gibt kein indisches Gesetz, das sicherstellt, dass Inder gleich entlöhnt werden wie ihre westlichen Kollegen.»
Es gibt in Indien 1700 Hochschulen für pharmazeutische Wissenschaften, die jedes Jahr 20’000 Absolventen hervorbringen. Dennoch beinhaltet der Lehrplan keine praktische Ausbildung in der Pharmaindustrie, wodurch Studenten sich über die neuesten Trends und weltweite Praktiken auf dem Laufenden halten könnten. «Der Übergang von der Uni zum Arbeitsplatz ist nicht nahtlos, es ist viel Anleitung erforderlich und das behindert wiederum die Produktivität», sagt Deshpande, dessen Firma im Auftrag der indischen Regierung Pharma-Absolventen diesen Service anbietet.
Ein weiterer Vorteil für Pharmaunternehmen: Die veralteten Arbeitsgesetze bieten wenig Schutz vor Ausbeutung und Diskriminierung. «Es gibt kein indisches Gesetz, das sicherstellt, dass indische Fachleute, welche die gleiche Arbeit wie ihre westlichen Kollegen verrichten, mindestens die gleichen Leistungen erhalten», sagt Suman Doval.
Der in Neu-Delhi ansässige Anwalt, der auf Arbeitsrecht spezialisiert ist, erklärt: «Das einzige, veraltete Gesetz (Industrial Disputes Act, Red.) von 1947 hilft weder Wissenschaftlern noch Managern, faire Arbeitsbedingungen zu verlangen.»
Doval hofft auf «ethisches Verhalten», darauf dass renommierte Pharmaunternehmen freiwillig die Leistungen an ihre indischen Mitarbeiter verbessern werden. Doch solange höhere Gewinne und Kostensenkung die Hauptgründe für die Verlagerung nach Indien sind, wird das wohl ein frommer Wunsch bleiben.