Die Gleichstellung der Geschlechter ist in der Verfassung verankert. Dennoch werden Frauen täglich diskriminiert. Was ist zu tun? Es braucht nicht bloss Gesetze, sondern eine feministische Debatte, die die Missstände an eine breite Öffentlichkeit bringt.
Seit 43 Jahren haben Frauen das Stimmrecht auf nationaler Ebene. Seit 33 Jahren ist die Gleichbehandlung von Frau und Mann in der schweizerischen Bundesverfassung verankert. In 81 Jahren ist die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz erreicht – so verspricht es zumindest der neuste Gender Gap Report des WEF. Es ist also an der Zeit für eine Zwischenfrage: Brauchen wir den Feminismus noch?
Ja, wir brauchen ihn. Die Gleichstellungsforderungen sind inzwischen in die Jahre gekommen, aber sie sind nicht erfüllt und damit nicht veraltet, findet die britische Journalistin Laurie Penny im Interview mit der TagesWoche. Eine feministische Debatte wäre also dringend angezeigt.
Feminismus en vogue
Was haben wir überhaupt erreicht? Ein Blick in die Medien zeigt: wo es für junge berühmte Frauen, die Rolemodels unserer Gesellschaft, lange geschäftsschädigend war, eine politische Haltung zu haben, ist dies nun anders. Feminismus ist en vogue. Emma Watson ist Feministin, Beyoncé ist Feministin, Taylor Swift ist Feministin. Einzelne starke Frauen setzen sich auch in der Wirtschaft durch. Diese «Karrierefrauen» à la Sheryl Sandberg widmen sich nicht nur ihrem persönlichen Fortkommen, sondern wollen mit der Parole «Lean in!» alle anderen Frauen «empowern».
Während sich also im angelsächsischen Raum ein neues Bewusstsein für Geschlechter-Fragen entwickelt, schlafen die Schweizer Medienhäuser. Sie berichten zwar davon, aber als Modethema, das in die Lifestyle- und Gesellschaftsbünde und Spezialblogs geschoben wird. Dabei ergibt sich ein grundlegende Frage: ist Feminismus ein Modethema? Ein Accessoire, das man sich nach Bedarf umhängt, und das im nächsten Jahr wieder out sein wird? Nein. Feminismus ist Politik. Und gehört auf die Titelseiten.
Wo sind eigentlich die politischen Feministinnen der Schweiz?
Das Bewusstsein für die Verbindung von Feminismus und Politik ist zwar zumindest in linken Kreisen nicht gänzlich verloren gegangen. Feministinnen und Gewerkschafterinnen kämpfen seit Jahren für ihre Anliegen, sie haben sich ihre Nischen in Gleichstellungsbüros erarbeitet, aber anstatt von da aus die Schweiz zu erobern, werden sie nur selten gehört. Dieser pragmatische Feminismus ist leider nur Feigenblatt-Politik. Und der noch wahrnehmbare politische Feminismus ist im deutschsprachigen Raum nach wie vor stark von der Generation Alice Schwarzer geprägt. Diese beschränkt sich, trotz verdienstvoller Vergangenheit, heutzutage meistens auf gesetzliche Forderungen: Prostitutionsverbot, Burkaverbot und – fernab jeglicher Realität – am liebsten auch ein Verbot für Pornografie.
Das ist gut gemeint, löst aber nur wenige Probleme. Gesetzliche Forderungen ändern keine Rollenbilder, sie heben keine Stigmatisierungen auf und führen ganz bestimmt nicht zu weniger Diskriminierung. In einer Zeit, in der die Mehrzahl der kinderhabenden Frauen arbeitet und doch weiterhin den Löwenanteil an der Familien- und Haushaltsarbeit leistet, ist die Gleichstellung der Geschlechter keine rein gesetzliche Frage mehr: Sie ist eine Frage der Macht. Vielmehr: Eine Frage des Bildes von männlicher Macht in unserer Gesellschaft.
Denn Gleichstellungsforderungen sind nutzlos, wenn die Geschlechter trotz Gleichstellung unterschiedlich bewertet werden. Dies äussert sich in Phänomenen wie Sexismus, Diskriminierung und Ausschluss. Phänomene, denen rechtlich schlecht beizukommen ist und die in ihren Ausprägungen kaum je politisch diskutiert werden. Wenn die JUSO im Vorfeld der Miss-Schweiz-Wahlen «gegen Sexismus und die Zurschaustellung von Frauenkörpern» demonstriert, widmet die politische Berichterstattung sich lieber der Frage, ob der nachfolgende Polizeieinsatz verhältnismässig war oder nicht. Nicht diskutiert wird die ursprüngliche Kritik der Jung-Sozialisten: Ist diese Veranstaltung sexistisch? Und falls sie es ist, weshalb?
Feministisches Engagement muss das Nachdenken darüber anstossen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.
Deswegen braucht es einen Feminismus, der in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wird. Eine politische Bewegung, die anprangert, was sexistisch und diskriminierend ist. Die benennt, wer davon betroffen ist. Und deren Forderungen von Leitmedien diskutiert werden. Politik kann dabei nicht nur Parteipolitik sein, sondern soll mit ihrem Engagement das Nachdenken darüber anstossen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Selbst wenn dieses Nachdenken bedeutet, dass wir da ansetzen müssen, wo es uns am Persönlichsten betrifft: in unseren privaten Beziehungen und unserem Alltag.
Es braucht einen Feminismus, der aus Migrantinnen und Sexarbeiterinnen keine Opfer macht, sondern diese Menschen für sich selber sprechen lässt. Der Zusammenhänge aufzeigt zwischen der Berichterstattung der Boulevardmedien und magersüchtigen Frauen. Der fragt, ob es richtig ist, die Gebärfähigkeit von Frauen mit «Social Freezing» so zu verändern, dass sie ins Wirtschaftssystem passen, oder ob man nicht besser das System ändert, sodass auch die Frauen hineinpassen? Der künftige Probleme in den Blick nimmt und nicht mehr bereit ist, diese zu akzeptieren: Frauen erfahren mehr sexuelle Gewalt, Frauen leisten mehr unbezahlte Arbeit, mehr emotionale Arbeit, mehr Beziehungsarbeit und werden dafür im Alter mit niedrigeren Renten bestraft.
Es braucht einen zeitgemässen Feminismus, wie ihn etwa die deutsche Journalistin Anne Wizorek in ihrem neu erschienenen Buch «Weil ein Aufschrei nicht reicht» fordert. Einen Feminismus, der wieder zusammendenkt, was eigentlich immer schon zusammengehört hat: Das Private mit dem Politischen. Denn was politisch verpasst wird, muss heute privat gelöst werden – zu ungunsten der Frauen. Wir brauchen eine feministische und politische Debatte, die sich wieder traut, die Machtfragen politisch zu stellen und die Mächtigen in Frage zu stellen.