Wir Bünzlis

Verbrachten Sie Ostern im Stau? Gehören Sie auch zu jenen, die sich über trinkende Junge empören? Dann sind Sie ein Bünzli. Davor sind Sie ganz besonders nicht gefeit, wenn Sie einst ein Rebell waren.

«Es könnte sein, dass du dich wiederfindest in einem wunderschönen Haus, mit einer wunderschönen Frau. Es könnte sein, dass du dich fragst, wie kam ich hierher?»: The Talking Heads. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Verbrachten Sie Ostern im Stau? Gehören Sie auch zu jenen, die sich über trinkende Junge empören? Dann sind Sie ein Bünzli. Davor sind Sie ganz besonders nicht gefeit, wenn Sie einst ein Rebell waren.

Wenn Sie mich fragen, was eigentlich ein Bünzli sei, so antworte ich mit einer Checkliste voller Klischees:

Wer einen Schrebergarten besitzt. Oder ein Sparkonto. Freisinnig wählt. Oder schlimmer: CVP. Oder noch schlimmer: die SP, obwohl einem die Partei auf die Nerven geht. Wer in der Migros so lange damit wartet, die eigenen Einkäufe aufs Band zu legen, bis die Person vor einem den Warentrenner platziert hat. Wer hinter den eigenen Einkäufen den Warentrenner in exaktem 90-Grad-Winkel aufs Band legt. Wer weiss, dass diese Dinger Warentrenner heissen.

Wer Krawatten trägt. Pauschalferien in der Dominikanischen Republik macht und dabei einen Tauchkurs anfängt, weil er sich beim Herumliegen an der hoteleigenen Strandbucht zu Tode langweilt. Wer Krimis liest. Und zwar immer vor dem Schlafengehen, also nach der Abendausgabe der «Tagesschau».

Pauschalreisen und lustige Katzenbilder

Wer Chillout-Lounge-Mixes als Erinnerung an die letzten Pauschalferien hört. Bilder seines Abendessens auf Facebook stellt. Oder lustige Katzenbilder per Mail verschickt. Wer eine Modelleisenbahn besitzt. Wer sich in den Bus drängt, um sich als Erster hinzusetzen – und dann wieder aufsteht, um einer ­älteren Dame den Platz frei zu machen. Wer in der S-Bahn sitzen bleibt, wenn besoffene Jugendliche aufeinander losgehen. Wer im Treppenhaus staubsaugt, Hemden bügelt oder den Rasen mäht.

Wer eine Aktentasche besitzt oder eine von «Freitag». Wer ein Cheminée im Wohnzimmer hat. Wer am Sonntag in die Kirche geht. Und am Nachmittag Fussball schaut. Zuhause, am Fernseher, statt im Stadion. Vor dem Cheminée. In einer Wohnung, die einmal die Woche aufgeräumt wird. Von einer Putzfrau ohne Stimmrecht und Deutschkenntnisse.

Was blieb von den 80ern? Aus Punks wurden Banker, aus New-Wave-Chicks Berufsschullehrerinnen.

Wenn mindestens drei dieser Punkte auf Sie zutreffen, dann sind Sie ein Bünzli. Das dürfte auf drei Viertel der Leserschaft der TagesWoche zutreffen – und natürlich auch auf mich selber! Als Schweizer Mann ist es praktisch unmöglich, kein Bünzli zu sein. Das ist uns eingeschrieben. Teil unserer Mentalität, um jenen unsäglichen Begriff zu benutzen, der immer dann ins Spiel kommt, wenn ein Bünzli versucht, seinen – strukturell bedingten? – Rassismus oder Ordnungssinn zu umschreiben. Wenn er etwa erklärt, wie die Dinge «bei uns» seien, und dass man sich eben daran zu halten habe. Denn der Bünzli, wie Ödön von Horvath schon 1930 in «Der ewige Spies­ser» schrieb, weiss, was Gut und Böse ist, ohne da­rüber nachzudenken.

Das Bünzlitum – eine Männerkompetenz

Natürlich gibt es auch biedere Frauen, doch die fallen nicht so auf in der Männerwelt der Bünzlis. Und das sind nicht einmal nur jene Frauen, die (immerhin kopftuchfrei) zu Hause auf einer Eckbank sitzen, ganz in der Nähe des Herdes ihrer Einfamilienhäuser, wo sie von Ueli Maurer angekettet wurden, und darauf warten, dass ihre Bünzli-Männer von ihrem Nine-to-five-Job nach Hause kommen. Übrigens ist es auch verdammt bünzlimässig, englische Phrasen in deutsche Sätze einzuflechten, um damit ein bisschen weltmännischer zu wirken. Denn nichts ist bünzliger, als hip sein zu wollen. Doch dazu später.

Leider bin ich selber zu jung, um noch zur Punk-Generation zu gehören. Als ich zur Welt kam, erschien die erste Platte der Sex Pistols. Bis ich in die Pubertät kam, waren Punks bereits die bettelnden Randständigen am Bahnhof und keine Bewegung mehr. Ich durfte nicht mehr am eigenen Leib erleben, wie einfach es doch war, das Bürgertum mit so simplen Sätzen wie «God save the Queen», «Deutschland verrecke» oder einfach nur «Freie Sicht aufs Mittelmeer» ins Bockshorn zu jagen.

Lieber «No Future» als soziale Sicherheit

Dennoch bin ich mit der dezidiert antibürgerlichen Provokationspose dieser Zeit aufgewachsen. Alles war klar: Die Eltern waren die Bünzlis, wir waren cool. Grenzenloses Glück statt eingemauerte Zufriedenheit. Lieber «No Future» als eine sozial gesicherte Existenz, erkauft mit dem Verzicht auf Chaos, Spontaneität und Kreativität. Eine Existenz, die in der pubertären Vorstellung eines 15-jährigen Punks nur mit emotionaler Verarmung enden kann.

Oder um es mit den Talking Heads zu formulieren: «Es könnte sein, dass du dich wiederfindest in einem wunderschönen Haus, mit einer wunderschönen Frau. Es könnte sein, dass du dich fragst, naja, wie kam ich hierher? Es könnte sein, dass du dich fragst: Mein Gott, was habe ich getan? Ich habe die Tage vorbeigehen lassen …»

Eine Erkenntnis, die Kevin Spaceys Figur im Film «American Beauty» 20 Jahre später wiederholt: «Beide, meine Frau und meine Tochter, halten mich für einen totalen Verlierer. Und, sie haben recht. Ich habe etwas verloren. Ich bin mir nicht ganz sicher, was es ist, aber ich weiss, ich habe mich nicht immer so gefühlt. So betäubt!»

Was blieb von den 1980er-Jahren? Nachdem aus den Hippies Yuppies geworden waren, hat es auch die ­No-Future-Generation erwischt. Aus Punks mit ­Irokesenschnitt wurden glattrasierte Bänker, aus New-Wave-Chicks Berufsschullehrerinnen. Aus Gitarristen Geschäftsführer von Fussballvereinen. Und aus linken Politaktivisten wurden Chefredaktoren von ­«Tages-Anzeiger» und «Basler Zeitung». Oder noch schlimmer: SP-Passivmitglieder.

Jedem Böhnchen sein Institutiönchen. Schreibt hier einer, der für die SP im wahrscheinlich bünzligsten Kantonsrat der Schweiz sitzt. Und – entgegen aller Klischees – nicht im Thurgau, einem Kanton, in dem man wenigstens glücklich sterben kann. Bei uns in St. Gallen muss man sich vor lauter Bünzlitum Strategien zurechtlegen, um überhaupt zu leben. Im Ernst: Unsere Ehrenbürger heissen «Födlebörger»!

Michèle Rothen für Bünzlis

Meine Generation hat denselben Wechsel durchgemacht. Wir sind Bünzlis geworden. Sogar ich. Meine Vorliebe für Punk hat nur so lange gehalten, bis ich in der Pubertät die Körperhygiene entdeckte – eine zutiefst bünzlige Sache, zweifellos, aber fürs Sexualleben unabdingbar. Es gibt einfach gewisse Orte, an denen man eine Zunge nicht hintut, wenn sie nicht sauber gewaschen wurden. Und wenn Sie jetzt finden, so ein Satz gehört nicht in einen Zeitungsartikel, sind Sie nicht nur ein Bünzli, sondern auch einfach antiquiert. Denn es gibt wenig Bünzligeres, als in der Öffentlichkeit über sein Sexualleben zu sprechen. Was sich unter anderem daran zeigt, dass alle Bünzlis die «Magazin»-Kolumnistin Michèle Rothen toll finden. Ausser sie macht plötzlich ernst und propagiert eine Frauenquote für Führungskräfte … ich schweife ab.

Meine Kifferkumpels von einst sind inzwischen verheiratet, und wenn das erste Kind nicht schon auf dem Weg ist, dann ist sicher eines «in Planung». Was so viel heisst wie: Haushaltsbudget erstellen, seinem Arbeitgeber ein Modell mit flexiblen Arbeitszeiten schmackhaft machen und mit den Grosseltern in spe schon mal Vereinbarungen übers Babysitten treffen. Am besten den Verlauf des Ganzen noch mit einer Mindmapping-App auf dem iPad dokumentieren. Oh, und nicht vergessen: sich neue Wanderschuhe kaufen, damit man mit dem Kind «in die Natur» ­gehen kann. Am besten über Ostern, wenn alle andern das auch tun. Bei so viel Planung kann sich im kritischen Moment durchaus eine spontane Impotenz einstellen.

Die perfidesten aller Bünzlis

Vielleicht ist es meiner Generation auch einfacher gefallen, sich in diesen Trott zu geben. Die Hippies lehnten sich gegen eine Generation auf, die vom Krieg gezeichnet war, aus Nazis, Kollaborateuren und Kriegsprofiteuren bestand. Beziehungsweise den perfidesten aller Bünzlis: den schweigenden Mitwissern. Die Punks der Achtziger konnten sich immerhin noch gegen eine Kaste der Mächtigen auflehnen, die den Planeten mit einem Gleichgewicht des Schreckens in Atem hielt, während sie gleichzeitig ebendiesen Planeten mit Ölflecken, radioaktiven Ödlanden und kohlestaubgelben Smoghimmeln überzogen.

Die Kifferkumpels sind verheiratet. Und wenn sie noch kein Kind haben, ist sicher eines «in Planung».

Wen hatten wir schon als Feinde? Einen französischen Präsidenten, der ohne militärische Notwendigkeit inmitten des pazifischen Nichts eine Atombombe zündete. Den verwirrten Ehemann, der die Karriere der ersten Bundesrätin zerstörte. Das Frauenstimmrecht war eingeführt. Die Apartheid war gefallen. Unser Kulturkampf war nicht der gegen unsere Eltern, sondern der zwischen Rappern und Rockern.

Kein Wunder war in den 1990er-Jahren das alte Postulat, dass man weder in Kunst und Politik noch mit irgendetwas provozieren könne, endlich umgesetzt: Christoph Marthalers wunderbare Parodien auf das Bünzlitum wurden von einem Bünzli-Publikum beklatscht. Vom selben Empörungsbünzlitum übrigens, das seinen Kopf rollen sehen wollte, nachdem er den letzten echten Provokateur, den Theaterschreck Christoph Schlingensief, auf das Zürcher Publikum losgelassen hatte.

Ein Theaterschreck wird vertrieben

An der Geschichte um Marthalers Abgang in Zürich (2004) zeigt sich auch, dass das Bünzlitum mehr ist als nur eine Checkliste kleinbürgerlicher Klischees. Es gibt sie, die graue Masse von Empörungsbürgern. Es sind dieselben Menschen, die so sehr den Kontakt zur heutigen Jugend (und die Erinnerung an ihre eigene) verloren haben, dass sie mit einem Verkaufsverbot für Alkohol ab 22 Uhr sogenannte Exzesse unterbinden wollen. Dieselben (und hier waren die Frauen plötzlich sehr wohl mit dabei, wenn auch wieder einmal als stille Mehrheit), welche der Minarett-Initiative zustimmten – einfach «um einmal ein Zeichen zu setzen», wie mir einst eine linke junge Frau in Winterthur erklärte.

Es wird häufig und gern behauptet, insbesondere unter jungen Menschen gehöre das Schubladen-Denken der Vergangenheit an. Wo sich früher Rocker und Rapper die Rübe einschlugen (bevor sie unweigerlich zu Bünzlis wurden), ist der Hipster von heute bereits eine wandelnde Crossmedia-Installation: Rüebli­hosen in Regenbogenfarben, eine Hornbrille mit dem Gütesiegel von Mensa Schweiz und gleichzeitig Bob Dylan und DJ Antoine in einem Bastard-Pop-Mix auf dem farblich zu den Hosen abgestimmten iPod Nano.

Juso-Präsident im Bünzli-Outfit

Dazu darf der junge Mann von heute gut und gerne auch ein Holzfällerhemd tragen und sich einen Schnauz wachsen lassen, beides zu meiner Zeit noch unverkennbare Wahrzeichen der Bünzlis. Inzwischen laufen Juso-Präsidenten so herum. Und Jungfreisinnige, die in ihren Blogs darüber sinnieren, wieso es so viele Verbote in der Schweiz gibt. Aber vielleicht ist das ja eben diese Bünzli-Mentalität.

Denn der Widerstand der Jugend gegen die Alten ist immer ein perverses Abbild eines Kampfes der sozialen Schichten. Die Weigerung der Punk-Generation, sich auf jene Form der Erwerbsarbeit einzulassen, welche ihre Eltern in moderner Sklaverei hielt. Das Friedensdogma der 1968er-Generation, die sich damit gegen den militärisch-industriellen Komplex auflehnte – ein Gebilde, das sehr real damit drohte, die Menschheit in einen nuklearen Winter zu werfen.

«Bönzlis» gegen «Bünzlis»

Der einzige Klassenkampf, den die Generation der Mittzwanziger von heute noch kennt, ist jener ­zwischen «Bönzlis» und «Bünzlis», wie der «TagesAnzeiger» kürzlich feststellte. Also zwischen reichen Bonzen und kleinbürgerlichem Mittelstand. Denn die Unterschicht besteht nur noch aus «Shippies»: schlecht ausgebildeten AusländerInnen, die in Kleinklassen kleingehalten werden. Statt einer Berufslehre gerade noch eine Anlehre auf dem Bau oder im Service bekommen, je nach Geschlecht, und spätestens mit 40 mit kaputten Rücken bei der IV landen. Dort angelangt, werden sie dann als «Scheininvalide» verteufelt und – weil sie während der Zeit, in der sie ­arbeiteten, keine Zeit hatten Deutschkurse zu besuchen – wegen mangelnder Sprachkenntnisse «nach Hause» geschickt.

Der Klassenkampf, der immer Teil des Spiels war zwischen Alt und Jung, wird bei uns derzeit gerade ethnisiert. Damit erhält das ewige Spiel um die Bünzlis und ihre Gegenspieler eine ganz neue Wendung: Während den Punks und den Hippies und sogar meinen Kifferkumpels der Weg nach oben, also in den bünzligen Mittelstand, immer offen stand, sind wir modernen Bünzlis gerade daran, uns eine Gesellschaft einzurichten, die die Grenze zwischen bünzligen Eidgenossen und «Shippie»-Papierli-Schweizern zieht. Wenn Sie also unbedingt eine Definition wollen: Wir neuen Schweizermacher sind die Bünzlis von heute.

Etrit Hasler ist Slampoet, Journalist und SP-Kantonsrat in St. Gallen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13

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