Wer soziale Medien benutzt, wird bald zu deren Opfer. Ein Ausstieg wird unmöglich.
Rund eine Milliarde Menschen haben sich vor ein paar Tagen selber entmachtet. Sie können in Zukunft nicht mehr über die Regeln ihres Netzwerkes abstimmen – weil sie, so die Erklärung der Geschäftsführung, sich ohnehin nicht dafür interessieren.
Die Facebook-Community war dazu aufgerufen worden, über ihr künftiges Mitspracherecht bei Änderungen der Regeln zur Privatsphäre abzustimmen: Knapp 600 000 sprachen sich gegen eine Schmälerung ihrer Rechte aus, 80 000 waren dafür. Das ist zwar ein eindeutiges Resultat – aber für Facebook nicht bindend, da sich nicht einmal 0,1 Prozent der Nutzer beteiligt haben. Bedingung war, dass mindestens 30 Prozent der aktiven Mitglieder sich an der Abstimmung beteiligen.
Das erschien auf den ersten Blick nur fair: Wenn es nicht mal 0,1 Prozent der Betroffenen für nötig befinden, sich an der Abstimmung zu beteiligen, scheint die Selbstentmachtung der Facebook-Gemeinde mit rechten Dingen zuzugehen. Kein Grund also sich aufzuregen?
Die Illusion, mächtig zu sein
Politikwissenschaftler werden die Frage unterschiedlich beantworten und vielleicht von Machtmissbrauch sprechen, weil das Abstimmungsverfahren nicht durch Aufklärung begleitet war wie etwa bei Volksabstimmungen. Ökonomen mögen einwenden, dass Facebook kein Staat sei, sondern eine Firma, und Autohersteller, Bahnbetriebe oder Telefongesellschaften ihre Kunden auch nicht über die Produktgestaltung entscheiden lassen. Für Medienwissenschaftler ist der Fall interessant nicht wegen der Entmachtung der Mediennutzer, sondern wegen deren Illusion, trotzdem mächtig zu sein.
So hiess es etwa in einem Kommentar auf nzz.ch: «Die Nutzer werden ihre Stimme also in einer sehr viel härteren Form abgeben: benutzen oder eben verschmähen. Ich für meinen Teil verliere jedenfalls stetig Interesse an der Plattform und vermute, dass es einem guten Teil der Milliarde Nutzer auch so geht. Erlauben sie sich einen zu grossen Fehler (etwa zu viel Werbung, komische Richtlinien), so bin ich und ein beträchtlicher Teil der Milliarde, die nicht Facebook-süchtig sind, schnell weg.»
Abstimmen mit den Füssen?
Die Drohung, mit den Füssen abzustimmen, zehrt natürlich von der Web-2.0-Losung: Das Web seid ihr. Das stimmt zwar, denn Facebook, Youtube, Twitter & Co. wären nichts ohne die Inhalte, die die Nutzer generieren. Aber wären die Nutzer, sollte Facebook den Bogen überspannen oder sollten Youtube und Twitter mehr Werbung schalten, wirklich «schnell weg»? Wie viele gingen? Und: wohin? Das Paradox ist bekannt: Schon seit längerer Zeit finden immer mehr Nutzer Facebook immer schlimmer, und trotzdem wächst die Zahl der Mitglieder stetig, als gäbe es kein Leben ohne Facebook.
Die Machtgeste des Kommentators basiert auf einem Selbstbetrug, denn im Grunde will er gar kein Leben ohne Facebook, sondern ein Facebook ohne Mark Zuckerberg, ein Facebook nach eigenem Gusto. Dazu bräuchte es aber mehr als Medienverweigerung, nämlich eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Da dies weit über den Stein des Anstosses hinausginge, bleibt der Protest heisse Luft. Denn Facebook ohne Zuckerberg geht nicht; es geht nur leben ohne Facebook – und das geht eben auch nicht mehr.
Die entstandene Situation wird als «organologischer Zirkel» bezeichnet: Die Menschen erschaffen sich ihre Werkzeuge, bevor sie ihrerseits von diesen bestimmt werden. Wir, die eine Milliarde Nutzer, machen Facebook zu dem, was es ist. Aber unsere Macht endet, sobald wir Facebook mächtig gemacht haben. Sobald Facebook unsere Kommunikation und Selbstdarstellung breitenwirksam bestimmt, können wir nicht mehr verlustfrei aussteigen.
Das weiss jeder, der sich uninformiert über seine Freunde fühlt, weil er nicht auf Facebook ist. Wieso, hört man mittlerweile, weisst du nicht, dass ich inzwischen geschieden bin? Ich hab es doch auf Facebook gepostet! Spätestens dann ist die Frage nicht mehr «Was machen die Menschen mit den Medien?», sondern «Was machen die Medien mit den Menschen?».
Was Facebook betrifft, so macht es, dass wir unser Leben so öffentlich leben wie möglich. Wir teilen anderen mit, wer wir sind, welche Hobbys wir haben, welche Bücher wir mögen, mit wem wir befreundet sind, wo wir arbeiten, wo wir wohnen, was wir gerade denken, welche Videos, Songs, Artikel wir gerade konsumiert haben, welche Events wir besuchen, ob wir Single oder vergeben sind. Wer nichts teilt, ist suspekt. Hat er gar etwas zu verbergen? Plötzlich gelten neue Regeln, über die nie diskutiert wurde. Regeln, die das Medium, mächtig durch massenhaften Gebrauch, mit sich bringt. Wer nicht mitspielt, katapultiert sich leicht ins kommunikative Abseits.
Ein Beispiel aus der jüngsten Mediengeschichte ist der Abbau der Notrufsäulen auf deutschen Strassen, weil der vermehrte Handybesitz sie überflüssig machte. Wer kein Handy hat, der hat besser kein altes Auto! Ein anderes Beispiel betrifft die deutschen Schwarzfahrer, die künftig mehr Bussgeld zahlen sollen. Der Grund: Sie würden das Erwischtwerden erschweren, indem sie sich über Online-Netzwerke gegenseitig vor Kontrollen warnen. Bussgelderhöhung als Notwehr gegen die Kommunikationseffizienz neuer Medien. Man kann davon ausgehen, dass die vernetzten Schwarzfahrer sich eine gute Antwort einfallen lassen. Das Nachsehen haben Schwarzfahrer, die nicht per Smartphone mit dem Alarmsystem verbunden sind. Das werden sie sich nicht mehr lange leisten können.
Es stimmt, die sozialen Netzwerke wären nichts ohne uns, aber inzwischen sind wir auch nichts ohne die Netzwerke. Deswegen wird Facebook weiter wachsen, egal wie weit Mark Zuckerberg den Bogen überspannt.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12