Die EU wird in der Schweiz gern als Fehlkonstruktion bezeichnet. Doch die blinde Verteidigung nationaler Interessen bringt uns nicht weiter.
Man muss nicht alles gut finden, was in der EU geschieht und was die politischen Spitzen der EU machen. Aber einen gewissen Minimalrespekt verdienen das Projekt und seine Ingenieure und Architekten doch. Diesen Respekt sollten auch die neunmalklugen Kommentatoren aufbringen, die vom helvetischen Balkon aus die europäische Szene betrachten. Minimaler Respekt und damit auch eine Grundportion Anstand schliesst eine kritische Sicht auf die Dinge nicht aus. Kritik müsste aber auch die Bereitschaft zur Selbstkritik einschliessen und sich nicht von fundamentalen Voreingenommenheiten leiten lassen.
Ausdruck der Überheblichkeit
Das in der Schweiz mittlerweile gängige Wort von der «Fehlkonstruktion» der EU ist so ein Ausdruck der Überheblichkeit. Der Begriff «Konstruktionsschwächen» wäre schon zutreffender. Wie hätte man Europa richtiger konstruieren müssen? Und wären Alternativen auch umzusetzen gewesen? Und woran mag es wohl liegen, dass sie bisher nicht verwirklicht wurden?
Der vor Kurzem der EU verliehene und am 9. Dezember 2012 feierlich übergebene Friedensnobelpreis hat die harten Kritiker des europäischen Projekts nicht weicher gestimmt, ihre ablehnende Haltung ist im Gegenteil nun auch auf das Nobelkomitee ausgedehnt worden. Die Anerkennung aus Oslo schüttet aber keine Boni an die derzeit Verantwortlichen aus, sondern erinnert bloss daran, dass dieses Unternehmen wegen seiner Ausrichtung und der bisher erzielten Ergebnisse es einfach verdient, auch einmal formell anerkannt zu werden.
Die Aktionen zur Überwindung des kriegerischen Nationalismus in den Jahren 1948–1950 hatten die Bedeutung eines grossen Wurfs. Entsprechend gross ist die Verpflichtung seiner Erben. Indessen beschränkten sich die Entwicklungsmöglichkeiten von allem Anfang an und in der Regel auf kleine Schritte. Grössere Schritte sind seltene Ausnahmen.
Kleine Erfolge ohne Beachtung
So kommentierte etwa die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel vom 13./14. Dezember, der immerhin die Aufsicht über die Grossbanken mit insgesamt rund 90 Prozent des Bankvermögens im Euroraum angeschoben hat, mit der so banalen wie zutreffenden Bemerkung: «Einiges ist geschafft, aber es bleibt noch viel zu tun.»
Die vielen kleinen Schritte werden kaum beachtet, zum Beispiel die kürzlich zustande gekommene Einigung der wichtigen Patentfrage, was Rechtssicherheit und Kosteneinsparungen bringt, oder die als «bedeutender Integrationsschritt» gewürdigte Einigung in der Bankenaufsicht oder der wider Erwarten schnell gefundene Konsens bei der Verabschiedung des Budgets 2013.
Aber es bleiben vor allem die Schlagwörter «Zwist», «Zitterpartie» und «Flickenteppich mit Löchern» in unseren Köpfen hängen.
Die Grundproblematik ist – auch und gerade in der Finanzkrise – dieselbe geblieben: Das Wohlergehen anderer ist eine Voraussetzung für das eigene Wohlergehen. Das ist eine Einsicht nicht «nur» der Sozialpsychologie, sondern auch der Ökonomie.
Europa ein Friedensprojekt?
Es gibt gute Gründe für ein Fragezeichen. Beides, Integration wie Frieden, war in der ersten Zeit nach 1945 vor allem eine zwischenstaatliche Aufgabe. In unserer Zeit sind Integration wie Friede (jetzt aber in der Art des sozialen Friedens) vermehrt zu innerstaatlichen und zugleich transnationalen Aufgaben geworden. In den ersten Jahrzehnten des Europaprojekts stellte sich kaum die Frage, ob man eine gute Mischung zwischen Eigenverantwortung und Solidarität zustande bekomme. Jetzt ist das ein dringendes Gebot der Gegenwart.
Wenn wir uns der Frage stellen, warum die unbefriedigenden Verhältnisse so sind, wie sie sind, landen wir nicht bei der EG oder EU, sondern bei ihren Mitgliedern – den Nationalstaaten. Diese werden von der Kritik stets zu stark geschont und sogar gegen die EU verteidigt. Die Verteidigung nationaler Interessen erscheint noch immer mit grösster Selbstverständlichkeit als legitim und als richtig, während das Anmahnen europäischer Interessen schnell dem Verdacht der Usurpation ausgesetzt ist.
Groteskerweise sehen ausgerechnet diejenigen, die mit ihrem Ruf nach möglichst wenig Europa, mit der fundamentalen Opposition gegen eine starke Wirtschaftsunion, einer Haushaltsunion, einer politischen Union, die aktuelle Krisen mit zu verantworten haben, die Lösung der Probleme noch immer darin, der EU möglichst wenig Kompetenzen zu geben.
Unumgängliche Ausweitung
Der Nationalstaat als Urzelle des öffentlichen Lebens? Gerade in der Schweiz sollte man wissen, dass auch der Nationalstaat regionale Partikularismen gegen sich hat, die selbstverständlich von der übergeordneten Grösse leben. Was wäre ein Kanton Zug ohne die Schweiz? Die sich stets weiter ausdehnenden Zusammenhänge (vom Verkehr über Versorgungsbedürfnisse bis hin zur Umweltpolitik) machen eine Ausweitung der Organisation von der nationalen auf die supranationale Ebene notwendig.
Selbstverständlich muss diese Ausdehnung massvoll sein, das wird aber auch von den allermeisten anerkannt, auch von den vielgescholtenen «Eurokraten», die aus der Nähe betrachtet keine Dämonen, sondern anständige, hochmotivierte und qualifizierte Menschen sind, wie der österreichische Schriftsteller Robert Menasse bei seinen Brüsseler Begegnungen festgestellt hat.
Gemessen an den objektiven Notwendigkeiten und Bedürfnissen wird nicht zu viel angestrebt, sondern zu wenig zugestanden. Das permanente Mehrwollen hat seinen Grund in Notwendigkeiten, denen man entsprechen muss. Und das Resultat dieses Mehrwollens heisst Integration. Könnte es davon – wie vom Guten – zu viel geben? Worin bestehen diese?
Wenn die EU in der Schweiz ein schlechtes Image hat, dann ist das vor allem ein Problem der Schweiz, nicht der EU.
Vereinfacht gesagt, bestanden und bestehen sie in der Homogenisierung der europäischen Vielstaaterei. Dies aus zwei einfachen Gründen: einerseits zur Überwindung der nationalen Feindseligkeiten innerhalb der europäischen Staatengruppe und andererseits zur Bündelung der Kräfte im Verhältnis gegenüber anderen Regionalgruppen der Welt.
Der EU scheint es im Moment nicht besonders gut zu gehen. Das wird von vielen in der Schweiz nur wenig bedauert und als willkommene Bestätigung für die ablehnende Haltung gesehen – hat man es nicht schon immer gesagt? Entsprechend liegen die Umfragewerte zur «Europafrage» im Keller. Die von der ETH Zürich jährlich durchgeführte Studie von 2012 zeigt ein Rekordtief von nur noch 17 Prozent Beitrittsbefürwortern. Zwei Jahre zuvor waren es noch 31 Prozent, und 1999 sprachen sich sogar 57 Prozent für eine schweizerische EU-Mitgliedschaft aus.
Wenn die EU in der Schweiz ein besonders schlechtes Image hat, dann ist das weniger ein Problem der EU, sondern vor allem ein Problem der Schweiz. Es erschwert einen offenen Blick, der neben den Schwächen auch die Stärken sieht – und vor allem auch die Notwendigkeiten nicht aus dem Auge verliert. Unter anderem müsste man erkennen, dass auch die scheinbar unabhängige Schweiz in hohem Masse vom Gelingen des europäischen Integrationsprojekts abhängig ist.
Und man darf ruhig noch einen Schritt weiter gehen und sich sagen, dass man bei dem Projekt, von dem man derart abhängig ist, doch auch Mitwirken und Mitentscheiden müsste, auf Augenhöhe, ohne Überheblichkeit, aber auch ohne Unterwürfigkeit.
Gute Ideen statt Visionen
Dabei sollte man sich selbst nicht nur als Gebende sehen, sondern auch als Nehmende. Man wird an einer bereichernden gesamteuropäischen Verständigungskultur partizipieren. Dazu braucht es keine neuen grossen Visionen. Gute Ideen genügen, und davon liegen eigentlich genügend auf den Tischen der Häuser, insbesondere die Agenda «Europa 2020».
Die Ideen müssen aber nicht nur gut sein, sie müssen auch ernsthaft umgesetzt werden. Was man im Verbund der EU – wie ausserhalb – vor allem braucht, ist Optimismus: ein am übernationalen Gemeinwohl orientierter, tatkräftiger Glaube an die positive Gestaltbarkeit der Zukunft.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12