Mit Mördern unter der Decke

Warum sind wir den Krimis von Henning Mankell oder Håkan Nesser verfallen? Und ist ein Ende des skandinavischen Booms in Sicht? Höchste Zeit für eine literarische Ermittlung.

Endlose Wälder, leere Strände, dunkle Wasser: In der skandinavischen Ödnis wartet das Unerkannte, Unheimliche. (Bild: Keystone)

Warum sind wir den Krimis von Henning Mankell oder Håkan Nesser verfallen? Und ist ein Ende des skandinavischen Booms in Sicht? Höchste Zeit für eine literarische Ermittlung.

Eben habe ich «Am Abend des Mordes» des Schweden Håkan Nesser zur Seite gelegt, den letzten Krimi der fünfteiligen Serie mit Kommissar Gunnar Barbarotti. Zwei Nächte reichten, um die 500 Seiten hinter mich zu bringen. Die geschickt angelegte Handlung im bereits vertrauten Kymlinge, einer fiktiven westschwedischen Kleinstadt, und die Neugierde, mehr über den zu einem alten ­Bekannten gewordenen Ermittler zu hören, liessen mir nichts anderes ­übrig. Doch nun macht sich Wehmut, schlimmer noch Unzufriedenheit breit. Man fühlt sich vor den Kopf gestossen, wenn sich am Ende eines Krimis­ eine einem liebgewordene ­Figur mir nichts dir nichts aus dem Staub macht – da nützen alle Ankündigungen des bevorstehenden Abschieds nichts.

Das ist nicht neu: Ähnlich erging es mir, als der Schwede Henning Mankell vor einigen Jahren im zehnten und letzten Krimi Kommissar Kurt Wallander in die Demenz versinken liess. Mit Bedauern wünsche ich mir jetzt, ich hätte mich bei der Lektüre des letzten (?) Barbarotti-Krimis etwas gezügelt. Beginnt der Winter doch erst und damit die Zeit, in der man sich bevorzugt mit einem Buch unter der Bettdecke verkriecht. Dem grauen Winteralltag entflohen, lässt es sich in diesem warmen Nest ganz ausgezeichnet den Blick auf die düsteren Seiten des Lebens richten – das Leben der anderen, versteht sich.

Dazu drängen sich, vertraut man Bestsellerlisten und den Verkaufsauslagen in den Buchhandlungen, skandinavische Krimis geradezu auf. Eine illustre Schar von Kommissaren, Ermittlerinnen und Journalisten bringen im idyllischen Skandinavien grauenvolle Wahrheiten ans Licht. Keine Gattung aus dem Norden ist seit Jahren auf dem deutschsprachigen und internationalen Buchmarkt so erfolgreich wie der Kriminalroman.

Gewalt im friedlichen Ambiente

Krimis behandeln die Beeinträchtigung der sozialen Ordnung. Dies wirkt doppelt drastisch an einem friedlichen Schauplatz. Skandinavien gilt grundsätzlich als solcher, weswegen die bis ins Detail geschilderte rohe Gewalt, kombiniert mit der Unzulänglichkeit der Polizei und einer allgemeinen Vereinsamung in dieser Umgebung umso stärker wirkt.

Literarhistorisch hat diese Diskrepanz zwischen einer friedlichen Landschaft einerseits und Gefahr und Unter­gang andererseits alte Wurzeln. Bereits in den Mythen geht es um den Versuch, die Menschen in einer unstrukturierten, weitläufigen Umgebung sicher zu verorten und gleichzeitig­ das lauernde Böse in seine Schranken zu weisen. Diese unstrukturierte Ödnis von Lebensräumen findet sich im modernen Krimi wieder: in Strassenschluchten und auf Autobahnen und eben auch in endlosen Wäldern, an leeren Stränden und dunklen Wasserflächen. In dieser Einförmigkeit wartet das Unerkannte, Unheimliche. Von dieser Unkenntnis geht die Gefahr für die Figuren aus.

Wenn in den Mythen Helden Ordnung stiften, sind es in den Krimis die Vertreter der sozialen, meist staatlichen Ordnungsmacht. Zwar ausgestattet mit Gewaltbefugnis, aber immer auch selbst gefährdet: Nicht nur die Gefahren ihres Berufs bedrohen sie, auch ihre ganz menschlichen Sorgen und Ängste um Gesundheit, Beziehungen und materielle Sicherheit machen ihnen zu schaffen. Letztlich haben sie dann aber Erfolg, wenn auch nur auf der Ebene ihres Berufs und nicht im Privatleben. Das Privatleben der Ermittlungsfiguren und ihr oft nicht mehr jüngster Körper stehen als Metapher für die zerfallende ­Gesellschaft, und diese Probleme bleiben ungelöst. Mit solchen menschlichen Figuren identifiziert man sich beim Lesen schnell einmal.

Oft alleinstehend, melancholisch veranlagt, allesamt eigenbrötlerisch tun sie ihre Pflicht und kämpfen ­gegen die sich auflösende Ordnung. Gewiss finden sich auch unter den Schweizer Kommissaren Figuren, die solche Eigenschaften aufweisen, etwa jene von Hansjörg Schneider, Dürrenmatt oder Glauser.

Bei den skandinavischen Krimis hat man jedoch den Eindruck, dass die gewaltige Natur und das extreme Klima – die eisige Kälte, der ewige Nieselregen und die unerträgliche Sommerhitze – kaum einen anderen Ermittlertypus zulassen.

Diese Elemente, verknüpft mit den typischen eines Krimis – Verbrechen, Ermittlungsphase und Aufklärung –, versehen mit einer Prise Gesellschaftskritik in einer rasanten, einfachen Sprache, lassen oft nichts anderes zu, als dass der Leser der Handlung verfällt und erst am Ende der letzten Seite wieder auszuatmen wagt.

Dies ist jedoch längst nicht bei al­len Vertretern des nordischen Krimi­nalromans der Fall – man denke an Jorun Thørring und Torkil Damhaug, beide aus Norwegen, oder an die Isländerin Yrsa Sigurðardóttir. Viel zu oft werden bestehende Schemas bloss übernommen und nicht besonders innovativ an die lokalen Gegebenheiten angepasst, geschweige denn eigenständig bearbeitet.

Langweilige Stereotypen

So häufen sich zurzeit die Zimtschnecken, die in den Krimis zum Kaffee gereicht werden, ähnlich wie die roten Holzhäuschen auf den Einbänden, die lange die Aufmachung der Krimis aus Skandinavien dominierten. Zweifellos ist in Skandinavien eine Tasse Kaffee unweigerlich mit warmem Gebäck, mit Streuselkuchen oder eben Zimtschnecken, verbunden, dass die Letzteren aber so häufig erwähnt werden wie bei Camilla Läckberg beispielsweise, ist schlicht unnötig. Zu viele dieser Stereotypen langweilen unweigerlich, schliesslich interessiert bei diesem Genre doch zuallererst die Verbrecherjagd.

Das Phänomen der Einbände ist zu den visuellen Vermarktungsstrategien zu rechnen, die der Krimiliebhaberin in der Buchhandlung unverkennbar den Weg zur Skandinavienecke weisen. Die ewig gleichen Landschaften werden aber vermehrt verdrängt von einzelnen blutbefleckten Objekten, Waffen oder Körperteilen, wohl in Anlehnung an die Einbände der deutschen Übersetzung von Stieg Larssons «Millennium»-Trilogie.

Eine Orientierung an «Verblendung», «Verdammnis», «Vergebung» ist auch hinsichtlich der Titel neuerer Übersetzungen skandinavischer Krimis auszumachen, etwa in den deutschen Titeln «Erbarmen», «Schändung», «Erlösung» und «Verachtung» des Dänen Jussi Adler-Olsen. Dies bedeutet aber nicht, dass man es hier mit einem zweiten Stieg Larsson zu tun hätte – vielmehr ist die Präsenz von Adler-Olsens Büchern auf die gute Vermarktung zurückzuführen.

Geradezu offensichtlich zeigten sich marktökonomische Überlegungen, als Island 2011 Gastland an der Frankfurter Buchmesse war und die Flut isländischer Krimis auf dem deutschen Buchmarkt mit dem Signet «Island-Krimi» versehen wurde. In der Tat beruht der Erfolg des skandinavischen Krimis auf einer ausgesprochen guten Marketingstrategie. Gleichzeitig verführt das Phänomen der Wiederholung von bereits Bekanntem, das Serielle dieses Genres den Leser relativ einfach zur Lektüre. Der Erfolg wird auch damit begründet, dass der Krimi inzwischen die einzige Literatur sei, die das Bedürfnis nach realistischer Gesellschaftsbeschreibung konsequent abdecke. Jedenfalls scheint das mörderische Hoch nicht nur hierzulande, sondern auch im Norden anzuhalten, zählen die skandinavischen Krimiautoren doch auch dort zu den Stars des Buchmarkts.

Dieses Hoch nahm seinen Anfang Ende der Neunzigerjahre mit Henning Mankell. War seinen ersten zwei Krimis mit dem übergewichtigen, einsamen und grüblerischen Kommissar Wallander im deutschsprachigen Markt kein Erfolg beschieden, geriet die Vermarktung des dritten Bandes «Die fünfte Frau» in den Sog eines Skandinavienbooms, ausgelöst durch den Norweger Jostein Gaarder und den Dänen Peter Høeg. Gaarders «Sofies Welt» (1991/1993), ein Roman über die Geschichte der Philosophie, eigentlich als philosophische Einführung an Jugendliche gerichtet, und Høegs «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» (1992/1994), ein zivilisations­kritischer Thriller, in dessen Zentrum eine Frau steht, die zerrissen ist zwischen der europäischen Kultur und derjenigen der Inuit, avancierten innert Kürze zu Weltbestsellern.

Der Erfolg dieser beiden Romane ebnete der skandinavischen Krimi­literatur den Weg in die internationalen Buchmärkte, und plötzlich richtete sich der Blick der Verleger und Literaturagentinnen nach Norden.

Frühe Wegbereiter

Die Ende des letzten Jahrhunderts eingeläutete skandinavische Krimiwelle wäre jedoch nicht denkbar gewesen ohne Maj Sjöwall und Per Wahlöö. Das schwedische Autorenteam reformierte mit der zehnbändigen Reihe «Roman über ein Verbrechen» Ende der Sechziger- und in den Siebzigerjahren den Kriminalroman in Anlehnung an die Krimis des Amerikaners Ed McBain: Sie verabschiedeten sich vom Rätselkrimi mit einer einzelnen genialen Ermittlungsfigur nach englischem Vorbild zugunsten eines realistischen gesellschaftskritischen Krimis.

Sjöwall und Wahlöö glaubten, dass sich der Kriminalroman ausgezeichnet eigne, die maroden Gesellschaftsverhältnisse des schwedischen Sozialstaats zu enthüllen und dadurch auf die Leser politisch einzuwirken. Diese sozialkritische Komponente, die in den ersten skandinavischen Krimis der Neunziger noch als Markenzeichen galt, ist in den aktuellen Krimis kaum mehr vorhanden. Was heute bisweilen als gesellschaftskritisch empfunden wird, sind vielmehr zeitgenössische gesellschaftsbeschreibende Elemente, die den notwendigen Hintergrund für einen sogenannt «realistischen» Krimi darstellen und sich im Takt der Veränderungen der Gesellschaft ebenfalls ändern.

Wer sich also tatsächlich darüber grämt, den fünften und letzten Fall mit Kommissar Gunnar Barbarotti unvorsichtigerweise allzu überhastet gelesen zu haben und sich zudem vor einem langweiligen Winter fürchtet, der findet womöglich Trost in Sjöwalls und Wahlöös «Roman über ein Verbrechen». In der 2008 neu aufgelegten Serie trifft man auf das Vorbild der meisten skandinavischen Serien­ermittler, auf Martin Beck, stets müde und desillusioniert seiner Arbeit ­gegenüber, und auf sein polizeiliches Ermittlungsteam der Reichsmordkommission Stockholm.

Die Serie ist spannend aufgebaut, sie ist humorvoll und trotz ihrer immanenten politischen Absicht auch heute noch ein Lesevergnügen. Oder man wendet sich dem hierzulande weniger bekannten Privatdetektiv Varg Veum des Norwegers Gunnar Staalesen zu: Mit dem unermüdlichen Idealisten Veum, der grossmaulig und draufgängerisch daherkommt, aber das Herz am rechten Fleck hat, lässt es sich ausgezeichnet die feucht-kalten Tage ignorieren.

Zweifellos könnte man auch den Krimistapel auf dem Nachttisch für einmal mit Literatur aufstocken, die nicht dem Krimi-Schema folgt, sich aber dennoch mit üblen Verbrechen in nördlichen Gefilden beschäftigt. Wer dies wagt, dem sei das bereits erwähnte «Fräulein Smilla» ans Herz gelegt. Oder man könnte zu Nessers «Kim Novak badete nie im See von Genezareth» und zu «Und Picadilly Circus liegt nicht in Kumla» greifen, in welchen der Autor mit den Grenzen des Krimis experimentiert; beide spielen in den Sechzigern, sie handeln von Jugendlichen, von Sommer und Liebe auf dem schwedischen Land.

Verbrechen ohne Krimi

In beiden sind Verbrechen und Auf­klärung nicht der zentrale Punkt, vielmehr zufällige Begebenheiten, die jedoch für die Hauptpersonen und deren späteres Leben bestimmend werden. Trotzdem sind die beiden Bücher spannend zu lesen, die Figuren feinfühlig gezeichnet und die Sprache mit viel sprödem Humor versehen. Oder man könnte «Geschehnisse am Wasser» der Schwedin Kerstin Ekman in die Hand nehmen. Das Buch hat zwar ein Verbrechen zum Thema – ein Paar, das in der Mittsommernacht 1973 an einem schwedischen Fluss ermordet aufgefunden wird –, dessen Aufklärung steht aber nicht im Vordergrund. Dieser grossartige Roman spielt mit dem der öden und unstrukturierten Landschaft latent innewohnenden Bösen, seine eindringlichen Beschreibungen der nördlichen Gegend, die Schilderungen düsterer Wälder und dunkler Gewässer fesseln.

Und wer nun immer noch Angst vor der Leere hat, dem sei «Schwarze ­Vögel» von Gunnar Gunnarsson empfohlen, ein Beispiel früher isländischer Kriminalliteratur aus den 1920er-Jahren, 2009 auf Deutsch neu aufgelegt. Es wurde inspiriert von einer historischen Begebenheit auf Island zu ­Beginn des 19. Jahrhunderts: Ein ehe­brecherisches Paar, dem man zur Last legte, gemeinsam die jeweiligen Ehegatten ermordet zu haben, wurde zum Tode verurteilt. Gunnarsson nahm diesen Rechtsfall auf und verarbeitete ihn zu einem raffinierten «Gerichtskrimi», der durch seine dichte Sprache und seine Einbettung in Bilder der ­isländischen Landschaft besticht.

Es könnte sich also lohnen, auf einen Klassiker zurückzugreifen, bevor der Blick auf die aktuelle Bestsellerliste­ der Krimis aus dem Norden geworfen wird. So entgeht man nicht nur der Qual der Wahl, sondern mindert auch die Gefahr, einem der vielen fantasielosen Nachahmer aufzusitzen, dessen Krimi während des Lesens nicht zu Atemlosigkeit führt, sondern zu Lange­weile.

Lektüretipps:
Håkan Nesser: «Am Abend des Mordes», der fünfte und letzte ­Krimi um Kommissar Barbarotti, btb Verlag, 2012.
Maj Sjöwall und Per Wahlöö: ­«Roman über ein Verbrechen», die zehnbändige Serie um Martin Beck, erstmals zwischen 1965 und 1975 erschienen. Rowohlt Verlag.
Gunnar Staalesen: mehrbändige norwegische Krimireihe mit Privatdetektiv Varg Veum. Fischer Taschenbuch Verlag.
Kerstin Ekman: «Geschehnisse am Wasser», Piper Verlag, 2011.
Gunnar Gunnarsson: «Schwarze Vögel», (1929), Neuübersetzung 2010, Reclam Verlag.
Peter Høeg: «Fräulein Smillas Gespür für Schnee», (1992), Rowohlt Verlag.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12

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