Nirgends treffen Hoffnung und Enttäuschung so eindrücklich aufeinander. Ein Besuch in Strassburg zeigt, wie facettenreich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist.
Vor dem Eingang hat sich eine Warteschlange gebildet. Angehörige, Studenten, Experten und Medienschaffende wollen in das Gebäude, das von aussen wie Glas-Silos aussieht. Auf dem Vorplatz steht ein bärtiger Mann, der in Richtung der Menge ruft: «Racists, you are Racists.»
Er schreit seine Wut an die Fassaden des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), offenkundig haben die Strassburger Richter nicht in seinem Sinne entschieden.
Derweil wird im Innern des Gebäudes über weitere Schicksale entschieden – über das eines Irakers, der wegen Kontakten zu Saddam Hussein sein Vermögen in der Schweiz verlor und nun als letzte Instanz den EGMR aufruft.
Andächtige Stimmung im Innern
Die Schweiz feiert derzeit den Beitritt zur Menschenrechtskonvention (EMRK) vor 40 Jahren. Der höchste EGMR-Richter, Dean Spielmann, reiste am Dienstag nach Bern. Gleichzeitig stehen die «fremden Richter» im Kreuzfeuer der Kritik. Die SVP will gar aus der Menschenrechtskonvention austreten.
Angesichts der Kritik am EGMR führte die Organisation Schutzfaktor M diese Woche ein Medientreffen in Strassburg durch, das die Arbeit des EGMR erklären sollte.
Im Gerichtssaal herrscht während der Verhandlungen eine andächtige Stimmung. Es ist ein hoher, futuristisch anmutender Raum, in dem etwa 100 Zuschauer Platz finden. In blau-schwarzen Roben schreiten die Richter an ihre Plätze, die Anwesenden stehen auf.
Dann folgt das Plädoyer des Klägers. Es ist ein flammender Appell an die Menschenrechte und die Pflichten des Gerichtshofs. Die Richter folgen dem Votum aufmerksam, notieren, stellen Fragen.
47 Richter aus 47 Mitgliedstaaten arbeiten am Gerichtshof für Menschenrechte.
Die Verhandlung wird in Englisch und Französisch geführt, eine Übersetzung gibt es zusätzlich für die russischen und türkischen Zuhörer.
Der Fall des Irakers, dessen Vermögen in der Schweiz eingefroren wurde, kann wegweisende Wirkung auf das internationale Recht haben. Es geht um nichts weniger als den Vorrang von UN-Recht und der Menschenrechtskonvention.
Es ist ein Fall, den nur Jura-Professoren wirklich durchschauen, der wohl aber Rechtsgeschichte schreiben könnte. Die gelebte Juristerei bringt die Luft regelrecht zum Knistern.
Der letzte Hoffungsfunke
Der EGMR ist die Instanz, an die sich Beschwerden verschiedenster Art richten. Homosexuelle, die ihre Rechte einklagen, Bürger, die seit Jahrzehnten erfolglos für ihre Rechte kämpfen.
Es geht bei den Fällen nicht immer um Folter und Tod. Das Beispiel einer Familie aus dem Kanton Schwyz zeigt, wie trivial die Beschwerden sein können. Die Familie wehrte sich dagegen, dass eine bestimmte Strecke des Jakobwegs durch ihr Grundstück verlaufen sollte. Die Schweizer Gerichte wiesen die Beschwerde ab, der EGMR ebenfalls.
Wer an den EGMR gelangt, hat bereits einige Stationen hinter sich: Der Gerichtshof ist für viele Menschen der letzte Hoffnungsfunke, zu ihrem Recht zu kommen. Es erstaunt deshalb nicht, dass am EGMR die Emotionen hochkochen – Wut, Ernüchterung und Hoffnung gehören zum Alltagsgeschäft der Gerichtsmitarbeiter.
Handgeschriebene Briefe an den Gerichtshof sind keine Seltenheit. Die meiste Post, wie dieser Brief, kommt aus Russland.
Im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich der Ort, wo Hoffnungen und Enttäuschungen am direktesten zusammenlaufen. In der Poststelle des EGMR treffen täglich etwa 1000 Briefe ein, häufig handgeschrieben, oft schwer zu entziffern.
Es gibt Vielschreiber, die auch nach einem negativen Urteil wöchentlich Briefe einsenden – mehrere handgeschriebene Seiten zum Beispiel. Viele tun dies aus Ärger, sie wollen ihr Urteil nicht hinnehmen oder geben die Hoffnung auch nach einem negativen Entscheid nicht auf. Ein Mann sendet seit Jahren regelmässig Gedichte per Fax, seine Motivation ist dabei unklar.
Die Mitarbeiter der Poststelle müssen ein halbes Dutzend europäische Sprachen verstehen – schriftlich zumindest. Etwa 70 Prozent der Angestellten in der Poststelle können Kyrillisch lesen, das ist Pflicht bei der hohen Zahl an russischen Beschwerden.
In der Poststelle treffen nicht nur Beschwerden ein, hier werden auch die schriftlichen Gerichtsurteile verschickt. Wenn ein schriftliches Urteil die Poststelle verlässt, erlischt häufig auch der letzte Glaube an Gerechtigkeit. Ein negatives Urteil ist schliesslich das Siegel für die endgültige juristische Niederlage.
Russische Separatisten haben vor dem Gerichtshof ein Camp aufgeschlagen. Sie protestieren gegen den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. (Bild: Peter Blunschi)
Bei einigen Abgewiesenen geht der Frust so weit, dass sie den Ort gar nicht mehr verlassen und vor dem Gerichtshof kampieren. Die zuständigen Richter sollen ihre Anwesenheit täglich zur Kenntnis nehmen.
Etliche Versuche gab es auch, bei denen sich Menschen vor dem Gericht in Brand stecken wollten. Die meisten solcher Versuche seien jedoch erfolgreich verhindert worden, versichern Mitarbeiter des Gerichtshofs. Manche Mitarbeiter benutzen nur den Hintereingang, um unerkannt zu bleiben.
Helen Keller ist seit 2011 Richterin am EGMR. (Bild: STEFFEN SCHMIDT)
Die 47 Richterinnen und Richter können der Konfrontation kaum ausweichen. Sie stehen mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit und sind auch häufig Kritik ausgesetzt. Helen Keller ist die Schweizer Vertreterin am EGMR. Sie verbringt ihre Zeit am EGMR in stundenlangen Sitzungen und Anhörungen – ein knochenharter Job. Was ihr bleibt, ist das Prestige als völkerrechtliche Autorität und der Kampf für die gute Sache.
Am Ende des Tages herrscht Ruhe vor dem Gericht. Die Protestierer sind nicht mehr da, einzig eine Frau bleibt vor Ort in einem eilig errichteten Zelt. Sie sei im Hungerstreik, steht auf einem Banner, der neben ihr im Wind weht. Wie lange sie vor dem Gericht bleibt, hängt von dem Entscheid ab, den die Richter in ihrem Fall treffen – vielleicht bleibt sie für Wochen, Monate, Jahre.