Es ist gut, dass Istanbul am Wasser liegt und sich auf drei verschiedene Landzungen verteilt. So sind wir gezwungen, uns hin und wieder an Bord einer Fähre den herbstlich kühlen Fahrtwind ins Gesicht wehen zu lassen. Das erfrischt den Geist, der inmitten der Menschenmassen und angesichts der vielen Reize taub zu werden droht. Kurz die Sinne klären, bevor wir uns wieder in dieses wunderbare Chaos stürzen.
Am Fährhafen buhlen die Verkäufer an ihren Ständen um die Aufmerksamkeit der Reisenden. Der alte Mann, auf dessen rotem Wägelchen sich die Simit (süssliche Sesamkringel) türmen und fein duften. Die beiden Jungs, die Maiskolben in einer grossen Wanne zuerst kochen, dann zusammen mit Esskastanien auf einer heissen Platte rösten. Der Fischer, der seine grillierten Makrelen im Brötchen mit Zwiebeln, Tomaten und Salat verkauft und dabei unablässig sehr laut und sehr schnell die Worte «Balik Ekmek, Balik Ekmek, Balik Ekmek» («Fischbrötchen») ruft.
Einst interessante Quartiere sind heute öde oder verlebt, dafür lebt die Stadt andernorts auf.
Istanbul ist umwerfend in jeder Hinsicht. Eine wahnsinnige Stadt; fast 15 Millionen Einwohner besiedeln die knapp 5500 Quadratkilometer auf zwei Kontinenten. Eine Metropole, die sich insbesondere in den letzten Jahren stark verändert hat.
So gehörten etwa bis vor einigen Jahren der Stadtteil Beyoglu und die Strassen rund um den Taksim-Platz zu den heissesten Tipps für jeden Besucher. Dort gab es die schicksten Bars, die interessantesten Restaurants, die heissesten Clubs. Verschiedene Kundgebungen, deren Niederschlagung durch brutale Polizeieinsätze und ein Selbstmordattentat sorgten dafür, dass inzwischen jeder Einheimische von einem Besuch dort abrät. Der grosse und einst populäre Boulevard, die İstiklâl Caddesi, Standort der üblichen internationalen Ladenketten, ist heute primär Baustelle.
Istanbul entwickelt sich rasend schnell. Besonders deutlich wird das in zwei Stadtteilen, deren Besuch sich nicht nur wegen den üblichen Sehenswürdigkeiten dringend lohnt: Kadiköy und Balat.
Hipster-Accessoirs und Coldbrew-Kaffee
Kadiköy liegt im asiatischen Teil der Stadt und ist das Neukölln Istanbuls. Hier drängen sich an den Wochenenden die ausgehfreudigen Stadtbewohner. Aus den unzähligen Bars und Pubs klingt laut Musik, Gelächter, Gesang. In den Läden gibts Vans-Turnschuhe und Fjällräven-Rucksäcke und in den Coffeeshops Coldbrew und Aeropress. Kadiköy ist so gerade noch hübsch, an den neuralgischen Stellen aber schon kräftig durchgentrifiziert.
In Balat hingegen steht die Aufwertung noch ganz am Anfang. Der Stadtteil befindet sich etwas abgelegen auf der europäischen Seite des Bosporus und ist von den touristenreichen Gegenden wie Sultanahmet oder dem Basarviertel am besten mit dem Taxi zu erreichen.
Der Fahrer setzt uns wie gewünscht vor der Chora-Kirche ab. Von aussen unscheinbar und verhältnismässig klein, glänzen innen golden die wunderbarsten Mosaiken, die man sich vorstellen kann. Wir legen unsere Köpfe staunend in den Nacken, so lange bis dieser zu schmerzen beginnt. Ein Spaziergang verspricht Lockerung.
Der junge Barista im Co-Working-Space brüht Filterkaffee, der Fruchthändler rührt Zucker in seinen Tee.
Balat liegt an einem Hügel, unsere reservierten Plätze im Restaurant auf Meereshöhe. Also verzichten wir auf die Strassenkarte und gehen los, immer schön bergab. Mal links, mal rechts. Unser Weg führt uns durch putzige Wohnstrassen, vor den Häusern hängt frische Wäsche, irgendjemand hat den streunenden Katzen Futter und Wasser hingestellt, Kinder jagen sich auf ihren Fahrrädern über die holprigen Pflasterstrassen.
Erst ganz unten im Stadtteil haben Aufwertung und Modernisierung erste Spuren hinterlassen. In einem Co-Working-Space läuft Hip-Hop, während der junge Barista in einem aufwendigen Prozedere Kaffee aufbrüht. Gegenüber rühren Fruchthändler und Barbier mit geübtem Schwung Zucker in ihren Tee. Eine Fischhändlerin versucht im gelben Licht der Strassenlaternen, ihre letzte Makrele an den Mann zu bringen, eine alte Frau mit Kopftuch beäugt kritisch die Sardinen in der eisbeladenen Auslage.
Unser Restaurant entuppt sich als klassisches Meyhane, eine Karte gibt es nicht. Als erstes stellt uns der Kellner eine Flasche Raki, einen Eiskübel, eine Flasche Wasser und je einen Teller mit Ziegenkäse auf den Tisch. Den Rest sollen wir vorne an der Theke auswählen. Die Wahl fällt schwer, mindestens 30 kalte Vorspeisen wollen gekostet werden. Eine besser zubereitete Aubergine haben wir noch nie gegessen. Der gegrillte Kalmar ist so zart, als hätte ihn der Koch einer kompletten Hamam-Behandlung unterzogen.
Irgendwann sind die vielen Schalen und Tellerchen leergegessen und die Flasche ausgetrunken. Zurück in die Ferienwohnung in Kadiköy gehts mit dem Schiff. Der Fahrtwind bläst uns die Raki-Trägheit aus dem Gesicht.
- Essen: Ist alleine die Reise wert. Die Auswahl an tollen Restaurants ist unendlich. Hier nur drei, die uns besonders gefallen haben.
Agora Meyhanesi 1890, in Balat, ist eine feine Adresse für Raki und Mezze.
Çiya Sofrasi, in Kadiköy. Feine anatolische Spezialiäten am Büffet aussuchen oder fantastische Kebabs von der Karte bestellen.
700gr. Bakery, in Kadiköy. Bäckerei und tolles Frühstückslokal. Einfach das Standardset (hausgemachtes Brot, Tomaten, Oliven, Käse, Honig) bestellen, für den grossen Hunger ein Omelet dazu. Auch der Kaffee ist sehr gut.
- Übernachten: Am besten über Airbnb ein Zimmer buchen. Wir waren bei Hande und Emre in Kadiköy, sehr nette Gastgeber mit guten Tipps für Bars und Restaurants im Quartier.
- Unternehmen: Istanbul bietet mehr Sehenswürdigkeiten, als in jeden Städtetrip passen. Man sollte sich aber unbedingt Zeit für eine Fahrt auf dem Bosporus nehmen. Zum Beispiel die 90-minütige Rundfahrt mit Turyol, die stündlich am Fährhafen Eminonü westlich der Galatabrücke ablegen. Snacks einpacken, beim Stewart einen heissen Çay bestellen und die grandiose Istanbuler Skyline geniessen.