Wochenendlich in Kiew: Die heilende Kraft des Techno

Inmitten der blutigen Umwälzungen in der Ukraine ist in der Hauptstadt eine neue Jugendbewegung entstanden. Wer Kiew jetzt verpasst, ist selber schuld.

Trist bei Tag, doch nachts steppt am Ufer des Dnjepr der Bär. (Bild: Renato Beck)

Schon der alte Mongole wusste um die Schönheit Kiews. Das hat ihn am Ende nicht abgehalten, die Stadt niederzubrennen und ihre Einwohner zu meucheln, aber schön fand er sie. Als er 1239 vor ihren Toren stand, erbat er die friedliche Übergabe, er wolle die Stadt schonen und ihre Pracht bewahren. Die Kiewer lehnten höflich, aber bestimmt ab – worauf sich bei dem Mongolenführer namens Möngke (ein Enkel Dschings Khans) neben dem ausgeprägten ästhetischen Empfinden eine zweite, eher problematische Disposition bemerkbar machte: Er war leicht zu kränken.

So ist das mit Herrschern, das wissen sie in Kiew heute noch: Sie scheren sich nicht besonders um das Leben anderer. Oder nur gerade dann, wenn es ihnen in den Kram passt. Eben gastierte der Eurovision Song Contest in der ukrainischen Hauptstadt und bis zur letzten Minute liess der Bürgermeister und ehemalige Boxchampion Vitali Klitschko Schlaglöcher flicken, Parkanlagen putzen, Blumenkästen aufstellen. Jedenfalls dort, wohin es Besucher und Kameras verschlagen sollte.

Die goldenen Kuppeln des St.-Michael-Klosters waren während der Übertragung oft im Fernsehen zu sehen, die Stadt wurde gerne von oben und von fern gefilmt. Den Charakter Kiews fängt man damit nicht ein und auch nicht die schmerzvolle Suche nach Identität, welche die Metropole am Dnjepr mit ihren drei Millionen Einwohnern zu einer der aufregendsten Städte Europas machen.

Dampfend vor Nationalgefühl

Wer nach Kiew will, muss das jetzt tun. Jetzt, da kleine Protesthäuschen vor Filialen der russischen Sberbank stehen. Ein Beitrag zur Deeskalation übrigens: Lange Zeit waren die Eingänge zugemauert, von Aktivisten am helllichten Tage und unter Polizeischutz bewerkstelligt.

Man muss jetzt nach Kiew, da in den besseren Restaurants die wunderbar schmelzenden ukrainischen Ravioli, die Wareniki, zweifarbig serviert werden, blau und orange. In diesen Wochen, wo die Schlagader der Stadt, der Kreschtschatik, in ein Fahnenmeer getaucht ist und Konzerte zu Ehren von Kriegshelden, Versehrten und Versehrenden stattfinden, dampft die Stadt vor Nationalgefühl.

Der Krieg mit Russland, die Vertreibung der Kleptokraten Leonid Kutschma und Wiktor Janukowytsch, all die blutigen Umwälzungen der letzten Jahre, haben die Menschen in Kiew verändert. Sie haben die Leute politisiert, haben sie gezwungen, sich Fragen zu ihrer Identität zu stellen.

Man merkt das überraschenderweise, wenn man in die flirrende Kiewer Technoszene eintaucht, für die alleine sich eine Reise nach Kiew lohnt. Seit ein paar Jahren blickt die Party-Fachpresse voller Erstaunen in die ukrainische Hauptstadt. Es gibt mehrtägige (illegale) Massenraves mit 1000 Tanzwütigen, in Fabrikhallen und auf einer halbfertigen Brücke über den Dnjepr, organisiert vom Kollektiv «Cxema». Es gibt das «Closer» im Hipster-Viertel Podil, eine verlassene Fabrikanlage, die heute ein Labyrinth ist aus Clubs, Kunsträumen, Fotostudios.

Ohne Kommerz und Gehabe

Vor den Partys werden draussen Matratzen ausgelegt, Lagerfeuer entfacht, drinnen kursiert eine Wasserflasche mit gelöstem MDMA. Es sind Technopartys, wie es sie hier wahrscheinlich auch mal gab: roh und leichtherzig, ohne Kommerz und Gehabe.

Die Pioniere der Szene entspringen den Zeiten des Euromaidans, als vor vier, fünf Jahren die proeuropäische Jugend den moskauhörigen Präsidenten Janukowytsch aus dem Amt jagte. Viele haben sich seither von der Politik wieder verabschiedet, ernüchtert über Machtmissbrauch, Zynismus und Korruption – Dinge, die auch ohne Moskau systemimmanent bleiben.

Diese Bewegung hat die politische Kraft des Apolitischen entdeckt: Sie bekämpft das System, indem sie sich ihm entzieht. Sie baut ihre eigene kleine Welt und öffnet sie für alle, die auf der Flucht sind. Mit uferlosen Partys, hippen Bars und Beizen, Künstlertreffs – vieles angelehnt an Berlin und Brooklyn, aber ohne deren Geld und Attitüde. Wer dieses Kiew verpasst, ist selber schuld.

  • Futtern: Kiews Gastronomie ist – untypisch für osteuropäische Städte – vielfältig und kreativ. Grossartig Georgisch gibts im «Radio Tbilisi». Von da ists auch nicht weit zu den Bars von Podil.
  • Feiern: An Silikon-Discos besteht in Kiew kein Mangel, Gott sei Dank gibt es auch eine aktive Alternativ-Szene. Das Nachtleben in Kiew ist überwältigend. Beste Spots: «Closer», das Dnjepr-Ufer, Hipster-Kneipen wie das «Juniper».
  • Flüchten: Ins Leben eines Kleptokraten reinschnuppern? Im Taxi nach Norden ans Kiewer Meer zur Janukowytsch-Villa Meschigorje. Gestüt, Jachthafen, goldene Türgriffe, Golfplatz – alles da, was der Autokrat so braucht.

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