Wyss‘ Archiv: Suche nach verlorenen Zeiten

Mitte der 1980er-Jahre tanzte in der Alten Aula der Uni eine Gruppe Aborigines, die eigens aus dem westaustralischen Busch eingeflogen worden war.

Da staunen die akademischen Ahnen an den Wänden und das Publikum nicht minder: Tanzende Aborigines am 21. Oktober 1985 in der Alten Aula der Universität Basel. (Bild: Kurt Wyss)

Mitte der 1980er-Jahre tanzte in der Alten Aula der Uni eine Gruppe Aborigines, die eigens aus dem westaustralischen Busch eingeflogen worden war.

Eine Begegnung? Auf der einen Seite wird intensiv getanzt, auf der anderen intensiv hingeschaut. Wilde Bewegung versus «zivilisiertes Beobachten». Dies in Gegenwart von akademischen Ahnen, die in der Alten Aula der Universität von den Wänden schauen. Von einer vierten Position schauen wir uns zusammen mit dem Fotografen diese Szene an. Sie ging vor 28 Jahren über diese kleine Bühne, wobei zur Szene nicht nur die Tanzgruppe, sondern auch das Publikum gehört.

Es war ein Tag der offenen Tür im «Völkerkundemuseum», dem heutigen Museum der Kulturen. Die Tänzer waren aus dem west­australischen Busch eingeflogen worden, um eine Teileröffnung mit Objekten aus jener ­Gegend zu feiern. Die Presse wertete die Aufführung als «Hauptattraktion». Der Bericht­erstatter der «Basler Zeitung» vom 21. Oktober 1985 verriet in seinem letzten Satz jedoch, dass der Auftritt auch als problematisch empfunden werden konnte. Die Tänzer seien keine in der Welt herumreisende professionelle «Folklore-Gruppe», sie würden vielmehr versuchen, in ihrer Freizeit das Erbe ihrer Väter am Leben zu erhalten. In ihrer Freizeit?

Heute würde man eine solche Vorführung aus politischer Korrektheit kaum mehr wagen.

Diese Formulierung verrät den kulturellen Bruch, der zwischen dem früheren Leben, aus dem hier ein überlieferter Ausschnitt reproduziert wurde, und der Jetztzeit bestand und auch die «Aboriginal Dance Group» erreicht hatte. Womit beschäftigten sich ihre Mitglieder, wenn sie nicht gerade Freizeit hatten? Im strengen Sinn muss Brauchtum, wenn es nicht Folklore sein will, in seinem angestammten Umfeld, zu gegebenen Zeitpunkten und vor ­allem mit bestimmten, noch immer gültigen Funktionen gepflegt und nicht am anderen Ende der Welt vor Publikum auf- und vor­geführt werden.

Heute würde man eine solche Vorführung aus politisch-kulturellem Korrektheitsbestreben kaum mehr wagen, obwohl sie ja nicht im Zoologischen Garten, wie man das auch in Basel noch bis 1935 machte, sondern in einer ehrwürdigen Museumshalle stattfand. Sicher mit Respekt, echtem Interesse, ohne Hochmut und sogar mit bescheidener Ergriffenheit.

Mit dem Blasinstrument, das fast die Länge eines Alphorns hat, soll eine ungeheure Vielfalt von Tönen produziert worden sein, welche Natur- und Tierstimmen imitierten: «Direkte Naturbezüge in der Kunst», heisst es im Pressebericht, «die bei uns kaum mehr möglich sind». Auch das «bei uns» verrät etwas: Dass hier eine Begegnung stattfand, die stark vom Kontrast lebte, nicht nur von hier und dort, sondern auch von jetzt und früher: eine Suche nach verlorener Vergangenheit.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.05.13

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