Heute schiessen Kameras selbstständig und permanent Bilder. Nicht dokumentierte Momente werden rar.
Letzthin traf ich einen Kollegen auf der Piste und fragte ihn, was für einen komischen Schmuck er um den Hals hängen habe. Ein Plastikkästchen mit kleiner Linse und einem billigen Bändel zierte seine Brust. Ganz stolz präsentierte er seine neue Anschaffung: Es sei eine Kamera, die rund um die Uhr im Voraus eingestellten Rhythmus Aufnahmen mache und diese auf einem winzigen Chip samt geografischer Position speichere. So müsse er nicht mehr bestimmen, wann und was zu dokumentieren sei, sondern nur noch hin und wieder den modernen Schmuck an den Computer hängen und durch die Bilder der letzten Stunden und Tage surfen. Es sei erstaunlich, wie viele gute Bilder zu finden seien.
Nun gut. Wie er diese Kamera für seinen Beruf als Fotograf benutzen kann, ist mir schleierhaft. Sicherlich ist die Aufnahmequalität noch zu schlecht, aber so wie es mit der technologischen Entwicklung läuft, wird sie sicherlich bald die Auflösung normaler Mittelklassekameras erreichen.
Den Schnappschuss in Nachhinein definieren
Aber was heisst das eigentlich, wenn der Fotograf die Verantwortung über den Augenblick abgibt und den Auslöser automatisiert? Wir kennen die belanglosen Aufnahmen von Webcams, die irgendeinen Platz von oben aufnehmen und den Stream unentwegt ins Internet blasen. Solche Kameras sind nur dann interessant, wenn zufällig ein effektvoller Terroranschlag oder mindestens ein spektakulärer Verkehrsunfall aufgenommen wurde.
Kürzlich wurde eine neue professionelle Aufnahmetechnik vorgestellt, mit der die Fotokamera unentwegt in bester Auflösung aufnimmt und einem nach dem Drücken des Auslösers einige Sekunden vor und nach dem Auslösezeitpunkt angezeigt werden, sodass man im Nachhinein den optimalen Schnappschuss definieren kann.
Das Durchstöbern von riesigen Datenmengen ist eine mühsame Angelegenheit. Ich weiss nicht, wie viel Zeit mein Kollege investiert, die drei, vier guten Bildli aus seinen Tausenden auszuwählen. Ich brauche als Profi-Fotograf ungefähr eine Stunde, um etwa 6000 Bilder am Bildschirm zu sichten, und das auch nur sehr oberflächlich. Meistens springen einem die wirklich guten Bilder entgegen, doch ist es viel angenehmer, aus wenigen Bildern das Richtige auszulesen.
Die öde Arbeit der Schlapphüte
Oft stelle ich mir bei dieser Tätigkeit vor, wie deprimierend es für die Schnüffler von NSA & Co. sein muss, die Fotobibliotheken auf unseren Computern und Smartphones zu durchstreifen. Hin und wieder findet sich vielleicht ein Highlight, aber ansonsten ist das gewöhnliche Private richtig langweilig.
Man stelle sich die Arbeit von zukünftigen Archivaren und Historikerinnen vor: Der Livestream eines Menschen wird nach dessen Ableben dem Staatsarchiv vermacht. Dort muss ein armer Knecht fast dieselbe Lebenszeit aufbringen, das Material des Verstorbenen zu sichten. In Zukunft wird es Kameras geben müssen, bei denen der Fotograf bestimmt, wann nicht aufgenommen wird.
Allerdings schiesst in Ausnahmefällen tatsächlich der Zufall die besten Bilder: Die Explosion eines Munitionswagens auf unserem Bild wurde 1900 unabsichtlich als Unfallfolge geschossen. Die Druckwelle hatte den Kameraauslöser betätigt.